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„Album Karl Höcker“ von Teatr Trans-Atlantyk
Foto: Ingo Solms

Delegiertes Genießen

29. Juni 2017

Das Festival „Theaterszene Europa“ in der Studiobühne zeigte polnische und deutsche Produktionen – Auftritt 07/17

Polnische Theatermacher haben derzeit nicht viel zu lachen. Selbst in Deutschland nicht. Regisseur Krzysztof Minkowski von Studio Я und Gorki Theater Berlin erzählte, dass seine Produktion „Die zwei Monddiebe“ in Polen nicht gastieren kann. Mehr noch: Anfeindungen in Berlin zeigen, dass der Arm der nationalen Rechten weit über Polen hinausreicht. Minkowskis Einpersonenstück, das jetzt beim Kölner Festival Theaterszene Europa zu sehen war, ist eine bissige Abrechnung mit dem Unglück von Smolensk, bei dem 2010 eine polnischen Regierungsmaschine mit Polens damaligem Staatspräsident Lech Kaczyński und zahlreichen Regierungsvertretern abstürzte.

Marta Malikowska gibt die nationalistische Stewardess, die in einem Gebet Großpolen beschwört und in einer Hasspredigt Donald Tusk und die Deutschen verbal abschlachtet. In Anlehnung an eine Rede von Ministerpräsidentin Beata Szydło schraubt sie sich in pathetisch-nationalistische Wortblasen. Zur Animation der Fluggäste wird dann der teilweise animierte Kinderfilm „Die zwei Monddiebe“ von 1962 gezeigt, in dem die Zwillinge Lech und Jaroslav Kaczyński im Kindesalter die Hauptrollen spielen. Die Szenen sind so zusammengeschnitten, dass die Terrortwins schließlich ihr Elternhaus zertrümmern, um den Mond zu klauen. Mit anderen Worten, die Kaczyńskis selbst und ihre Gefolgschaft von der PIS-Partei zertrümmern das polnische Heim. Auch wenn die Produktion mit ihrem sparsamen Setting und dem pathetischen Schlussbild mit einem von einer polnischen Flagge bedeckten Sarg etwas vordergründig daherkommt, gelingt ihr ein unterhaltsamer Agitprop-Abend.

Dietmar Kobboldt
Foto: Studiobühne

Dietmar Kobboldt ist freier Regisseur, Leiter der Studiobühne und Vorsitzender der Kölner Theaterkonferenz. Schwerpunkt seiner experimentellen künstlerischen Arbeit ist die Erforschung des Grenzbereiches zwischen Sprech- und Musiktheater.

Theaterszene Europa ist als bi-nationales Festival konzipiert, bei dem die Künstler des Gastlandes einheimischen Theatermachern begegnen. Sei es durch Besuch von Vorstellungen, in Workshops oder einfach beim Bier. So war auch die Performancetruppe pandora pop mit ihrer Produktion „somewhere else but now“ eingeladen. Aaron Austin-Glen radelte 2014 ein Jahr lang von London nach Australien und ließ über die sozialen Netzwerke seine Follower an der Reise teilhaben. Das bösartige Trio von pandora pop allerdings nutzt die Chance und übernimmt als User allmählich die Kontrolle über den Trip. Sie stellen Szenen im Regen nach, legen sich gemeinsam ins Zelt, kochen zusammen und fordern allmählich immer mehr Action. Der User wird zum Vampir eines delegierten Genießens, der den Radler schließlich auf den Mars schickt. So naheliegend der Gedanke, so zäh und nichtssagend entwickelt sich dieser performative Diaabend über geschlagene zwei Stunden. Was daran festivalwürdig war, bleibt das Geheimnis der Veranstalter.

Der Titel ist schlicht: „Album Karl Höcker“ nennt die Warschauer Gruppe Teatr Trans-Atlantyk ihren Dokumentartheater-Abend über das 2006 in den USA entdeckte Fotoalbum des gleichnamigen SS-Offiziers. Höcker war 1944 als Adjutant des Kommandanten Richard Baer nach Auschwitz gekommen. Seine 116 Aufnahmen zeigen den Lager-Alltag in KZ: Singen, Besprechungen, ein Ausflug in Erholungsheim Solahütte – ohne dass irgendwo ein Häftling ins Bild käme. Das fünfköpfige Ensemble streift sich Uniformjacke und Mütze über und versucht, die Haltungen der abgebildeten SS-Offiziere nachzustellen. Dazu wird Höckers Einstellungsgespräch improvisiert. Eine Liebesgeschichte mit einer Aufseherin deutet sich an. Es sind bekannte Versuche, sich einem „Endlösungs“-Manager anzunähern, vielleicht auch sich in ihn einzufühlen. Irritierend ist dabei, dass auch die Gruppe jeden Verweis auf den Lageralltag oder die NS-Ideologie ausspart. Anstatt die Normalität von Verbrechen und Freizeitvergnügen zu zeigen, erscheint plötzlich ein banales Blaubeerenessen monströs – was es nur vor dem Hintergrund ist, dass die Abgebildeten am selben Tag morgens an der Rampe in Auschwitz Häftlinge selektiert hatten. Ein Hitlergruß wiederum wächst sich zum Trauma einer Performerin aus. Am Ende ist man weder der Banalität des Bösen, noch der Absicht der polnischen Theatermacher nahe gekommen. Schade.

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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