Ein jahrhundertealtes System räkelt sich selbstzufrieden in Roben und Perücken auf den Sitzen der Macht, die über Freiheit oder Unfreiheit entscheiden: Unantastbar scheint das Patriarchat in der Judikative die Zeit zu überdauern. In Suzie Millers Drama „Prima Facie“ erhält es dagegen einen Platz auf der Anklagebank. Die einst zielstrebige und äußerst erfolgreiche Strafverteidigerin Tessa Ensler erfährt ohnmächtig einen Rollentausch. Nach einer Vergewaltigung erlebt die Anwältin das Ausgeliefertsein im Kreuzverhör einer männlich geprägten Justiz, die das Trauma des Verbrechens mit psychischen Attacken manifestiert. Anders als der Täter muss das Opfer ein Verbrechen beweisen, für das es keine Zeugen gibt.
Trotz der Tatsache, dass sie die zermürbende Taktik jahrelang selbst praktizierte, zerbricht die junge Frau unter der Last der Stakkato-Fragen nach der exakten Beschreibung des Geschehens, des Ortes, der Position von Händen, Armen und Beinen, von Gerüchen, Geräuschen, der Weigerung zum Geschlechtsakt, intimen Vorlieben und Momenten der Angst, Abscheu und Verzweiflung. Sonja Baum spielt mit überwältigendem Einfühlungsvermögen neben der Hauptfigur etliche weitere Charaktere in einer 100-minütigen Soloperformance. Dabei lotet die Schauspielerin (trotz Erkältung) emotionale Zustände im Zentrum des Wahnsinns aus. Im Angesicht einer Rechtssprechung, die der Wahrheit ein Schafott anstatt eines Throns errichtet, lässt Baum das Publikum mit einer intensiven Darstellung über weite Strecken der Aufführung zunächst fassungslos zurück, um es in Form von stehenden Ovationen zu einem Ausbruch der Gefühle zu bewegen.
Unter der Regie von Martin Schulze steht das Risiko eines staatlich geförderten Unrechts stets im Fokus der Adaption. Fehlerhafte Beweisaufnahmen durch unerfahrene polizeiliche Ermittler:innen, einseitige Kreuzverhöre und eine fehlende Empathie seitens der oftmals männlichen Entscheidungsträger hebt die Inszenierung hervor. Die nüchtern eingerichtete, viergeteilte Bühne, auf der Tessa zwischen Büro, Wohnung, Stadt und Gerichtssaal pendelt, unterstützt die Konzentration auf das Wesentliche: das Menschsein. Ein Quantum mehr Stille in der – nachvollziehbar aggressiv komponierten – Produktion ließe den Aufschrei von Schmerz und Empörung und die Solidarität mit den Opfern von sexuellen Gewalttaten vielleicht noch lauter erklingen. „Prima Facie“, zu Deutsch etwa „Dem ersten Anschein nach“, ist Realität, der Titel bedeutet daher auch Protest. Dass humanistische Impulse zunehmend von den darstellenden und bildenden Künsten ausgehen, sollte im Zuge von verschärften Budgetbeschränkungen auch die Kommunalverwaltungen und politischen Vertreter:innen aus Land und Bund zu denken geben.
Prima Facie | 26., 27.6. 20 Uhr, 12.7. 20 Uhr, 13.7. 15 Uhr (weitere Termine in Planung) | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
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