Im Anfang ist der Hund. Aus dem Nichts füllt ein drohendes Schäfertier – nennen wir es Blondi – das Auge im verdunkelten Raum mit Unliebsamkeit. Es kann nichts dafür. In Abwesenheit seines Herrchens füllt die Angst Lebensspannen mit oder ohne Napf. Der animalische Instinkt bleibt verlässlich. „Traudl Junge – Im Schatten des Bösen“ vollführt die Krönung des Tierischen zum Menschlichen. Weder die Naivität noch die Romantik, das Ego oder der Trieb einzelner Figuren spielen die Hauptrolle in der Inszenierung des Produktionsbüros Petra P. Die übernimmt eine unfassbare Realität, die den Rahmen für sämtliche Bildnisse setzt, so auch für die Vergangenheitsbewältigung. Dafür zettelt Regisseur Sebastian Kreyer mit vollstem Bewusstsein eine Verdrängungsspirale an, die zwischen der Wolfsschanze, dem Bunker der Reichskanzlei und der spießigen Privatwohnung des Theatermachers zirkuliert.
Basierend auf dem Dokumentarfilm „Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin“ von André Heller und Othmar Schmiderer erzählt Gertraud „Traudl“ Junge in der Alten Feuerwache aus dem bequemen Sessel von ihrem Dienst als „Führersekretärin“ in den Jahren 1942 bis 1945. Wer sich die mehr als zwei Jahrzehnte alte Vorlage anschaut, erkennt, mit welcher Präzision Daniel Breitfelder eine nach Erklärungsversuchen ringende Zeitzeugin verkörpert. Die rund 90-minütige Aufführung vermeidet es jedoch, im bleischweren Terrain zu verharren und bricht regelmäßig in humoristische Selbstreflektionen des Künstlerduos Breitfelder und Kreyer aus. Ironische Hiebe auf eine Freie Theaterszene, die aufgrund besserer Finanzierungschancen zur permanenten Bearbeitung zugkräftiger Themen verdonnert ist, sind ebenso Themen wie die Vorzüge des Kaffeekonsums in Köln-Nippes gegenüber der Innenstadt oder Schlummertechniken in queer-bedruckter Tom of Finland-Bettwäsche – denn Schlaf verspricht Frieden. Kurze Video-Interviews mit Jugendlichen und Erwachsenen zu Schlagworten wie „historische Verantwortung“ bzw. „Kollektivschuld“ lockern den schweren Stoff. Nicht nur sie steuern das vielschichtige Bühnen-Projekt in alternative Aufarbeitungsgefilde des Geschehenen sowie der Gegenwartswahrnehmung. Mit „Traudl Junge“ gelingt dem Ensemble ein unkonventioneller Beitrag zur Erinnerungskultur, der weder im Zähnefletschen noch im Tätscheln eines Tieres erstarrt.
Traudl Junge | 5.7. 19.30 Uhr, 6.7. 18 Uhr | neuer Ort: Theater der Keller | theater-der-keller.de
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