Eine Baustelle? Ein Vulkan? In der Mitte der Bühne türmt sich ein Steinhaufen auf, in dem drei lange Metallstangen stecken. Massive Explosionssounds dröhnen durch die Tanzfaktur, schleimige Tropfen sinken von einem Scheinwerfer herab. Schon mit dem ersten Bild von „Mandragora“ setzt Puppenspieler und Physical Artist Jan Jedenak in seiner Koproduktion mit der Studiobühne ein kräftiges Ausrufezeichen. Die Vulkanspitze beginnt, sich zu bewegen; ein menschlicher Körper schält sich unter Zuckungen und Dehnungen aus dem ‚Steinmassiv‘. An seinem Körper hängen ‚Steinfetzen‘, seine rechte Hand wächst sich in eine Wurzel aus. Ein Verweis auf mittelalterliche Darstellungen, in denen die Wurzel der Alraune-Pflanze (lat. Mandragora) mit der menschlichen Figur parallelisiert wurde. Die giftige Heilpflanze, die gegen Schmerzen und Schlafstörungen zum Einsatz kam, hat bis heute zahlreiche Spuren in der Popkultur hinterlassen – bis zu Harry Potter.
Nachdem die Wurzelfinger sich dem Scheinwerfer entgegengestreckt haben, beißt die sich herausschälende Figur sie einfach ab – und zerstört damit ihre Verwurzelung. Unter enormer Kraftaufwendung zieht der bis auf ein Suspensorium nackte Homo Faber die Stangen aus dem Steinhaufen und bohrt sie senkrecht in den Steinhaufen. Jedenak und Regisseur Al Seed verdichten in betörenden Bildern die Geschichte menschlicher Selbstermächtigung als Erkenntnis- und Entwurzelungsprozess.
Hat sich die Produktion anfangs noch in den Gefilden des Figuren- und Objekttheaters bewegt, nimmt sie jetzt zunehmend Elemente des Physical Theatre und des Nouveau Cirque mit hinzu. Jedenak setzt den beiden senkrechten Stangen noch eine waagrechte als Dach auf – womit einerseits ein Reck entsteht, aber auch ein Rahmen. Zu der angedeuteten anthropologischen Bedeutungsschicht tritt nun die des Framings des Männerkörpers hinzu, die sich als Codierung entpuppt.
Der Bewegungsduktus zwischen den Stangen entwickelt sich zu einem Zitat und einer Persiflage eines Pole Dance. Der so erotisch aufgeladene Körper wird zugleich als männlich athletischer inszeniert. Muskeln werden in Szene gesetzt, die Hautoberfläche durch Schweiß zum Glänzen gebracht. Das Framing erscheint als Einengung, wenn Jan Jedenak das Stangengeviert quasi senkrecht abschreitet, seinen Körper biegt und beugt. Der männliche Körper ist eingezwängt zwischen Athletik, Akrobatik und Gewalt: Jan Jedenaks Körper hängt schließlich kopfüber an einem Gurt und beschwört damit Darstellungen zwischen Zirkus und Lynchjustiz herauf.
Die als Programmzettel verteilte Postkarte zitiert nicht umsonst den 1992 an Aids verstorbenen Künstler David Wojnarowicz und seine Foto-Text-Collage „Untiteld (One Day This Kid…)“, die von homophober Gewalt gegen schwule/queere Körper erzählt. Mit diesem Bild endet etwas abrupt der Abend, der trotz kleiner dramaturgischer Schwächen sehenswert ist.
Mandragora | WA 4.-6.11. | Studiobühne Köln in der Tanzfaktur | 0221 470 45 13
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