Naturwissenschaftslehre am Theater: In einer improvisierten Doppelstunde Chemie experimentieren Regisseur Kieran Joel, sein Ensemble um Leonie Houber und Nils Kretschmer und rund 150 Besucher:innen im „Hörsaal“ mit den Grundsubstanzen der Liebe. Ein radikaler Umgang mit gebundenen wie ungebundenen Stoffen aus dem marmornen Laborschrank von William Shakespeare führt dabei zu vehementen Erschütterungen inklusive Stichflammen einer ewigen Illusion: Die Liebe ist und bleibt nicht zu fassen. Das ist aus philosophischer Sicht logisch, denn das Kernelement der Euphorie verträgt sich kaum mit dem Streben nach Einsicht durch Ordnung im Periodensystem – das Gegenteil, also Chaos, ist der Fall. Die Chemieeinheit gilt es daher durch medizinische Exkursionen zu erweitern: Mit einem vertikalen Hieb des Skalpells erfolgt die saubere Öffnung des Liebessyndroms, das entpuppt sich nach eingehender Betrachtung als feixende Comedienne, die hochgradig ansteckend ist. Ihre Geschichten fördern das Wundern, bringen uns zum Lachen, dosieren die Traurigkeit auf eine erträgliche Zeitspanne, zünden jedoch nur im Schutze der Dunkelheit. Soweit zum Rendezvous zwischen Dichter:in, Psychiater:in, Chemiker:in und Medicus/Medica.
Kieran Joels Version von William Shakespeares Klassiker am Theater im Bauturm sollte in einer gerechten Welt den gleichen Erfolg wie Bora Dagtekins „Fack yu Göthe“ erleben. Die Neuübersetzung mit nicht minder dramatischen Mitteln ist offensichtlich auf eine vergnügungssüchtige Klientel zugeschnitten, ohne sich anzubiedern. Neben dem zwangsläufig überzeichneten Plot setzen eine aus allen Rollen fallende furiose Julia (Leonie Houber) und ihr am Wahnsinn nagender Romeo (Nils Kretschmer) Kernfusionen plus deren unmittelbare Spaltung im Gang, die durchdringende Energien im Raum freisetzen. Auf und vor der Bühne ist während der gesamten Darbietung bei bestem Willen kein Liebesentzug möglich.
Dafür sorgen auch die Improvisationen, die auf Dialogen mit dem Publikum basieren. Sie erinnern zwar mitunter an den Boulevard-Stil des ZDF-Fernsehgartens, seien dem Theater aber (zumindest temporär) nicht verwehrt in Zeiten, in denen selbst politische Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hemmungslos dem jovialem Entertainment frönen. Dass der Wunsch des Betrachters wölfisch aufheult, die Protagonist:innen mögen sich bitte in ihr angedachtes Revier zurückbegeben, endlich der hochgezüchteten Tragik Tribut zollen und erlösenderweise gemäß ihres blutigen Schwures in der Blüte ihres Seins zu verglühen, sei verziehen – zu viel Liebe kann bekanntermaßen tödlich sein. Nichts zu fühlen ist in „Romeo und Julia. Ich fühl‘s nicht“ jedoch unrealistisch bis absurd. Nach der vorangegangenen Premiere „Prima Facie“ im Mai wiederum stehende Ovationen und dampfende Glückseligkeit im komplett vollbesetztem Bauturm, der nicht mehr aufhört, „Liebe ohne Leiden“ von Udo und Jenny Jürgens zu intonieren. Herrlich!
Romeo und Julia. Ich fühl‘s nicht | 4., 5.7. 20 Uhr, 26.9. 20 Uhr, 28.9. 18 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
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