Heruntergekommene Büroriegel eignen sich offenbar bestens für Stationendramen. Das Parasites Ensemble hat sich (in Kooperation mit der Studiobühne) für sein Stück „lieber wütend als depressed“ einen dieser typischen architektonischen Instantbauten mit seinen Zimmerfluchten ausgesucht, um in einem erstaunlichen Dreisprung Möglichkeit und Elend des politischen Aktivismus zu untersuchen: vom Engagement der RAF über den Ästhetizismus der 1980er bis zu heutigen Formen politischer Wut und Depression. Als „lebendes Museum“ umschreibt das Parasites Ensemble sein Konzept. Doch zunächst geht es in eine eher gewöhnliche, aber umso sprechendere Ausstellung.
In einem Vorraum hängen mehrere Schriftfahnen, auf denen die Gruppe minutiös die eigenen Produktionsbedingungen offenlegt: Von ästhetischen Vorbildern bis zu Förder- oder Probenbedingungen. Schon das sorgt für eine verblüffende politische Dialektik. Ob wir ein Steak, ein T-Shirt oder Kunst kaufen, der Fetischcharakter des Produkts bleibt von dessen Entstehungsbedingungen getrennt. Das Parasites Ensemble zeigt, wie hart sich die eigene Ästhetik an deren Produktionswirklichkeit reibt.
Im Anschluss schleust das Ensemble die Zuschauer durch einen historischen Parcours. Eine Pädagogik-Studentin sitzt Ende der 1960er Jahre in ihrem Zimmer, das mit allen zeittypischen Ingredienzen ausgestattet ist. Sie verliest Manifestschnipsel, reflektiert den Brüsseler Kaufhausbrand von 1967 als antikonsumistischen Akt und offenbart Zweifel am Sinn ihres Studiums. Die Verweise auf Ulrike Meinhof sind klar, die Anschlussfähigkeit ans Heute in Sachen politisches Engagement auch. Das zunächst zögerliche Gespräch kommt dann im nächsten Raum, einem verräucherten Kneipenambiente, mit einem in den Untergrund abgetauchten RAF-Anhänger richtig ins Rollen. Zwischen Zuschauer:innen und Performer entspinnt sich eine Diskussion über Sinn, Form und Grenzen politischen Engagements bzw. Terrorismus.
Die Folgen von 1968 sind bekannt: Massenkonsum, Hedonismus, Selbstverwirklichung, Psychotherapie – mit anderen Worten: die Subjektivierung und Ästhetisierung gesellschaftlicher Konflikte. In Raum 3 sitzt eine Frau an einem Tisch und lädt einen Zuschauer zum Verzehren eines Apfels und einer Zwiebel ein – ganz offensichtlich eine Parallele zu Marina Abramović. Wie viel politisches Engagement lässt Kunst zu? Bewirkt Kunst überhaupt etwas?
Im nächsten Raum lädt ein Hacker via Bildschirm zum Dialog – der aber nicht wirklich zustande kommen will. Dafür überstürzen sich die Gespräche im letzten Raum, in dem eine junge Frau auf einem Euro-Paletten-Bett von ihrer Depression angesichts von Corona und Klimakrise erzählt. Das Publikum steigt sofort darauf ein; einerseits wird die Verzweiflung einer Generation angesichts einer auf der Kippe stehenden Welt deutlich, andererseits aber auch ein Optimismus und eine Sehnsucht nach Engagement. Dem Parasites Ensemble gelingt mit einfachen und beeindruckenden Mitteln, die junge Generation in der Konfrontation mit Geschichte selbst zum Sprechen zu bringen – ohne in einen falschen Repräsentationsgestus zu verfallen.
lieber wütend als depressed | R: Parasites Ensemble | weitere Termine in Planung | 0221 470 45 13
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Perforierte Sprachgrenze
Die Studiobühne zeigt „Total“ – Theater am Rhein 05/23
Bedrohliche Fürsorge
„(S)Caring“ an der Studiobühne Köln – Auftritt 05/23
Spätes Licht
Studiobühne zeigt „Nachttarif“ – Theater am Rhein 04/23
„Ein Konzeptalbum, das sich mit Köln auseinandersetzt“
Daniel Schüßler über„Shit(t)y Vol.1.“ in der Tanzfaktur – Premiere 09/22
Wurzeln, Muskeln, queere Körper
„Mandragora“ in der Tanzfaktur – Auftritt 08/22
„Ab wann kippt ein freier Geist?“
Constantin Hochkeppel & Collaborators über „Tipping Points“ – Premiere 04/22
Sprungbrett für den Nachwuchs
Festival West Off an der Studiobühne – Prolog 03/22
Theatrale Angebote
„Die letzte Messe“ liest der katholischen Kirche die Leviten – Prolog 11/21
Let’s talk about Rap
„Dreckstück“ im Orangerie Theater – Theater am Rhein 10/21
Cis, WAP und Widerstand
Premieren im Rheinland – Prolog 11/20
„Messerscharfe Gesellschaftskritik“
Elsa Weiland inszeniert Henry David Thoreaus Ökobibel „Walden“ – Premiere 10/20
Aussteiger – Einsteiger
April-Premieren im Rheinland – Prolog 03/20
Muss alles anders?
„Alles muss anders“ am FWT – Theater am Rhein 05/23
Ausgerechnet der Zirkus
Circus Dance Festival in Köln – Festival 05/23
Für mehr Sichtbarkeit
„Alias“ am Orangerie Theater – Prolog 05/23
„Ich sehe mich als Bindeglied zwischen den Generationen“
Melane Nkounkolo über ihre Arbeit als Aktivistin und Künstlerin – Bühne 05/23
„Die Innovationskraft des afrikanischen Kontinents hervorheben“
Martina Gockel-Frank und Dr. Clemens Greiner über die „European Conference on African Studies“ – Interview 05/23
„Wir können in Köln viel bewegen“
African Futures-Projektleiterin Glenda Obermuller – Interview 05/23
Neues Bild von Afrika
African Futures Cologne 2023 bietet ein reichhaltiges Programm – Prolog 05/23
Erziehung zur Empathielosigkeit
„Das große Heft…“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 05/23
„Aufhören, Wunden zu schlagen“
Direktoren des africologneFestivals im Interview – Interview 05/23
Angst als kreativer Faktor
Das Sommerblut Kulturfestival 2023 beschäftigt sich mit Angst – Premiere 05/23
Dankbar für ein großes Lebenswerk
Nachruf auf Andreas Meyer – Bühne 04/23