Eine Frau (Luzia Schelling) liegt auf dem Boden, eingehüllt in ein braunes Tuch. Doch Schutz braucht sie eigentlich nicht. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ein Mann zu sein, um ihren Kampfeswillen auszuleben zu können. Ihre Verzweiflung nach der Kriegsniederlage von 1918 findet erst Erlösung in der Begegnung mit dem Nationalsozialismus. Sie wird zur Parteisoldatin, die für den „Führer“ kämpft.
„Warum ich Nationalsozialist wurde“ lautete die Frage eines Preisausschreibens, auf das diese Frau antwortete. Ausgelobt wurde es von dem polnisch-amerikanischen Soziologen Theodore Abel, der nach Gründen für die Machtübernahme Hitlers forschte. Unter der Schirmherrschaft der Columbia-University New York und unterstützt durch Goebbels Propaganda-Ministerium wurde im Sommer 1934 die Preisfrage mit Gewinnen ausgelobt. Rund 700 Zuschriften zwischen einer halben und 80 Seiten Länge gingen ein. Nach einem längeren Tauziehen mit dem Propagandaministerium veröffentlichte Abel, der durchaus Sympathien für Hitler entwickelte, seine Recherche 1938 als Buch. 80 Jahre später erschienen 85 dieser Biogramme auf Deutsch, aus denen Stefan H. Kraft und André Erlen von der Gruppe Futur3 die Stationen-Performance „1934 – Stimmen“ im NS-Dokumentationszentrum entwickelt haben.
Entscheidung für den Nationalsozialismus
Nach einer Einführung auf Schultafeln geht es hinab in den Keller. Jede Station wird einer entindividualisierten Personengruppe zugewiesen. Da berichten „Groupies“ via Lautsprecher, wie sie zu ihrem Popstar Hitler pilgern. Der „Jünger“ (Stefan H. Kraft) breitet sein moralisch völlig unbeflecktes Leben, seine Enttäuschung über 1918 und die Epiphanie in der Begegnung mit Hitler aus. Eine „Orthodoxe“ (Anja Jazeschann) schwankt zwischen predigthaftem Glaubensbekenntnis und trockenem Bericht, die schließlich in eine fast wahnhafte Gehetztheit übergehen. So unterschiedlich die Gruppen, so unterschiedlich die Motivation NS-Parteimitglied zu werden. Mal ist es der Sport, mal der Judenhass, mal Kulturpessimismus, mal Kameradschaft, mal Führerkult. Gemeinsam ist vielen die Enttäuschung über die Niederlage im Ersten Weltkrieg, ohne dass allerdings der Krieg je reflektiert wird. Überraschend auch, dass viele die Schriften Hitlers oder der NSDAP wirklich lesen, ohne sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Viele der Zuschriften von 1934 mögen durch die Aussicht eines Gewinns geschönt sein, doch es überrascht schon, wie realitätsfremd und erlösungssehnsüchtig viele ihren Werdegang beschreiben. Die Entscheidung für den NS ist vielfach schlicht keine politische gewesen.
Futur3 macht daraus einen mehr als nur beeindruckenden Parcours, dessen Gegenwartsbezug dem Besucher regelrecht ins Gesicht schlägt. Die Folgen der NS-Begeisterung transportieren der Raum (Gestapo-Verhörzellen) und der ungeheuer bedrohliche Soundtrack von Jörg Ritzenhoff samt den Schlafliedern von Mariana Sadovska. Der Abend hat allerdings auch eine komische Seite. Ein akustisch eingespielter Chor bittet ständig darum, nicht mit den Statements identifiziert zu werden – es ist diese beflissene Angst, bei der heute bereits die Alarmglocken schrillen sollten.
1934 – Stimmen | R: André Erlen, Stefan H. Kraft | weitere Termine in Vorb. | NS-Dokumentationszentrum | www.futur-drei.de
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