choices: Herr Borggräfe, wie definieren Sie die Aufgabe von KZ-Gedenkstätten und kommunalen Gedenkstätten wie dem NS-Dok hier in Köln?
Gesellschaftliche Auseinandersetzung als ein offener Prozess, der im Prinzip nie abgeschlossen ist. Das formuliere ich so in Abgrenzung zu dem häufig verwendeten Terminus „Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“. „Aufarbeitung“ hat etwas von: „Das macht man einmal und dann ist es erledigt“. Aber das kann es nicht sein, denn jede Generation muss sich neu und auch immer wieder von vorne mit der Geschichte auseinandersetzen, sich die Geschichte auf ihre Weise aneignen.
Gedenken und Erinnern beziehen sich auf die Vergangenheit. Warum braucht die Gesellschaft das für die Gegenwart?
Wir erleben derzeit eine Zunahme von Angriffen auf Gedenkstätten wie jüngst in Buchenwald oder Celle. Das zeigt: Gedenken ist kein passives, rückwärtsgerichtetes Tun, sondern steht mitten drin in den gesellschaftlichen Konflikten. Gedenkstätten machen mit bei der Diskussion über die Frage, wie wir zusammen leben, wie wir unsere Gesellschaft organisieren wollen. Demokratiebildung geht nicht ohne den Blick in die Geschichte. Gedenken an die Opfer der NS-Verbrechen, kritische Beschäftigung mit der Beteiligung der Mehrheitsbevölkerung an der Verfolgung, aber auch Würdigung des antifaschistischen Widerstands sind erst seit den 80er Jahren als selbstverständliche Aufgabe von Städten und Gemeinden anerkannt. Auch unser Kölner NS-Dokumentationszentrum musste gegen starke Widerstände erkämpft werden – und ist heute die größte Einrichtung ihrer Art in Nordrhein-Westfalen.
Womit wir in Köln wären. Wie geht es dem NS-Dok nach den Corona-Jahren?
In den Jahren vor Corona haben wir jährlich neue Besucherrekorde aufgestellt und waren 2019 bei 100.000 Besucher:innen angekommen. Der Einbruch war heftig, aber wenn die gute Entwicklung dieses Jahres anhält, werden wir 2023 die 75.000 überschreiten. Schulklassen und Gruppen aus der außerschulischen Jugend- und Bildungsarbeit sind mit einem Anteil von ca. 50 % unsere stärkste Besuchergruppe. Darüber hinaus Angehörige aller anderen Altersgruppen aus Köln und Umland. Aber bemerkenswert ist, dass die zweitstärkste Besuchergruppe ausländische Touristen sind. Gewiss ziehen wir Nutzen daraus, dass Köln ein touristischer Magnet ist, aber das reicht nicht als Erklärung. Köln wurde von der US-Army befreit. In Köln wurden Tausende von Zwangsarbeiter:innen auch aus den Beneluxländern und Frankreich eingesetzt. Die Geschichte ist in diesen Ländern nicht vergessen.
Seit knapp einem Jahr sind Sie Leiter des Hauses. Was haben Sie und Ihr Team sich für die nächsten Jahre vorgenommen?
Wir waren und sind drei in einem: Gedenkort mit den Häftlingszellen und Inschriften der Häftlinge im Keller des Hauses als Mittelpunkt; Lernort als Haus der geschichtlichen Bildung mit bis zu 2.000 Führungen im Jahr, dem jährlichen Jugend- und Schülergedenktag zum 27. Januar, Workshops, der Dauerausstellung und wechselnden Ausstellungen; Forschungsort zu Biographien ehemaliger Häftlinge oder zur Arbeit der Gestapo von Köln aus bis nach Aachen und Bonn. Das hat sich bewährt und das bleibt, aber wir müssen uns neu ausrichten. Unsere Dauerausstellung ist mittlerweile 25 Jahre alt. Die Forschung zur NS-Gesellschaft hat sich seither stark weiterentwickelt, ebenso hat sich die Kölner Stadtgesellschaft verändert, auch die Medien-Rezeptionsgewohnheiten junger Menschen ... Wir denken auch über mehr interaktive Elemente nach oder über eine App, mit der Nutzer:innen eigenständig Stadtrundgänge unternehmen können, z.B. auf den Spuren einzelner Häftlinge. Wir fragen uns, wie wir Angebote entwickeln können, die man nutzen kann, ohne ins Haus zu kommen. Das geht möglicherweise zu Lasten der Besucherzahlen, vergrößert aber unseren Wirkungsradius und die Nutzerzahlen. Die Aufenthaltsqualität könnte optimiert werden. Eine Cafeteria würde das Haus durchaus „gästefreundlicher“ machen. Wir haben einen enormen Datenbestand über Personen, Orte, Firmen und Ereignisse der Kölner NS-Geschichte: Fotos, Interviews, Nachlässe und Sammlungen. Dieser Fundus ist noch längst nicht zur Gänze erschlossen – und tatsächlich gibt es noch Forschungslücken: Beispielsweise wissen wir nicht genau, was in den einzelnen Gestapo-Büros wirklich geschah, wer dort wofür konkret verantwortlich war. Unsere große Vision dazu: Ein öffentliches Datenportal zur Kölner NS-Geschichte. Das alles läuft im Team unter dem Arbeitstitel „NS-Dok als Ort des Wissens und der Information“.
Das hört sich nach einem anspruchsvollen und langfristigen Vorhaben an. Wie schätzen Sie die Finanzierbarkeit ein?
Die allgemeinen Rahmenbedingungen werden nicht einfacher. Aber ich bin zuversichtlich, dass die demokratischen Parteien in Köln, im Land und im Bund angesichts des Erstarkens der extremen Rechten die Notwendigkeit der kritischen Erinnerungskultur und der Demokratiebildung sehen. Ohne Optimismus kann man solche Vorhaben nicht angehen.
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