Der scheidende NS DOK-Direktor Werner Jung informiert im choices-Interview über die Wanderausstellung „Philibert & Fifi“ und seinen persönlichen Bezug zum französischen Künstler Philibert Charrin (1920-2007). Die Werkschau umfasst unter anderem 80 gerahmte Zeichnungen und Plakate, 30 Original-Dokumente sowie Ausschnitte des Films „Travail Forcé“ mit Charrin, der noch zu deren Lebenszeiten Hitler als Kriegstreiber, Göring als Pralhans und Goebbels als Großmaul karikierte. 1943 wurde der Künstler als Erdarbeiter in der Nähe von Graz zwangsverpflichtet. Dort hielt Charrin die Lebensbedingungen auf Papier fest, oftmals begleitet von seiner Fantasiefigur „Fifi“ – einem Strichmännchen. Viele der Arbeiten gerieten im Laufe der Jahre in Vergessenheit.
choices: Herr Dr. Jung, wir betrachten die Vergangenheit mit den Augen der Gegenwart. Welchen Charakter haben Sie vor Augen, wenn Sie an Philibert Charrin denken?
Werner Jung: Wer solche Karikaturen und Zeichnungen in einer bedrohlichen Zeit zustande bringt, wird ein humorvoller, dem Leben und den Menschen zugewandter Mensch gewesen sein. Auf allen Fotos, die ich von ihm kenne, sieht man einen fröhlichen Menschen – selbst in der Zeit der Zwangsarbeit. Leider habe ich ihn nicht kennenlernen können. Ich bin aber sicher, es wären lustige gemeinsame Abende geworden – mit der einen oder anderen Flasche guten Rotweins.
Sehen Sie in Charrin mehr den Künstler oder den Widerständler?
Philibert Charrin ist vor allem Künstler, aber ein das Zeitgeschehen beobachtender und kritischer Künstler. Schon mit Anfang 20 setzt er sich mit Nazigrößen wie Hitler, Goebbels und Göring auseinander, aber auch mit Stalin. Ich glaube nicht, dass man es als einen aktiven Widerstand bezeichnen kann. Es ist aber ein Protest, der sich häufig hinter scheinbar nur lustigen Zeichnungen verbirgt. Immerhin demaskiert er die österreichischen Vorarbeiter und macht sich über sie lustig oder dokumentiert mit seinen Zeichnungen das Lagerleben und die harte Arbeit als „Erdarbeiter“.
„Er hat sich seine Würde und Menschlichkeit bewahrt“
Viele kennen den Film „Der große Diktator“ von und mit Charles Chaplin. Der drehte seine Persiflage auf Hitler im heimischen Kalifornien. Charrin war während der Besatzung täglich von Nazischergen umgeben. Wie gelang es ihm, seine verballhornenden Zeichnungen geheim zu halten?
Zunächst einmal ist es so, dass er den größten Teil seiner Zeichnungen gar nicht geheim halten musste. Wahrscheinlich waren viele „Einheimische“, wie er die Leute aus der Steiermark nannte, amüsiert und erfreut, wenn sie Zeichnungen von sich sahen. Erst im Zusammenspiel mit dem Text erschließt sich häufig die äußerlich in Watte gepackte Kritik an den Zuständen. Mag sein, dass aufgrund der sprachlichen Barrieren nicht jeder den Sinn überhaupt verstanden hat. Bilder, die deutlich kritisch waren, hat Philibert Charrin in der Baracke versteckt. Und ab und an schlug die Zensur zu.
Kann der humoristische Ausdruck im Angesicht von Unrecht eine effektvolle Waffe sein? Gab es Personen, die sich in ihrem Widerstand von Charirn inspiriert fühlten oder diesen zitierten?
Nein, das glaube ich nicht, dass Philibert Charrin widerständiges Verhalten gefördert hat. Aber er hat gezeigt, dass man trotz Zwangsarbeit und Verfolgung seine Würde und Menschlichkeit bewahren und die Verfolger bloßstellen kann. Und das ist immerhin einiges!
„Es hat in Frankreich niemanden interessiert“
Was wissen wir über den Künstler nach dem Krieg? Wurden er und seine Arbeit wertgeschätzt?
Das Gegenteil war der Fall. Philibert Charrin hat noch Ende 1945 ein Buch mit seinen Karikaturen aus der Zeit der Zwangsarbeit veröffentlicht und sie Anfang 1946 in einer Galerie ausgestellt. Es hat in Frankreich aber niemanden interessiert. Dort war es nicht anders als in anderen Ländern. Ehemalige Zwangsarbeiter wurden lange als Kollaborateure gesehen. Erst ab 2000 gab es in Österreich Entschädigungen und wurden in Frankreich Zwangsarbeiter als Opfer anerkannt. Dennoch wurde Philibert Charrin vor allem mit Collagen ein anerkannter Künstler. Seine Zeichnungen aus seiner Zeit als Zwangsarbeiter wurden nach 1946 erst 70 Jahre später nochmals ausgestellt. Und nun raten Sie mal wo? Im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln!
Wie gehen nach Ihrer Erfahrung überlebende Opfer des NS-Regimes mit einer humoresken Darstellung der Diktatur bzw. ihrer Protagonisten um? Rechnen Sie auch mit Vorwürfen der Verharmlosung?
Nein, das glaube ich nicht. Jeder und jede, die diese Zeit selbst erlebt und überlebt haben, wird die Qualität der Arbeiten von Philibert Charrin und ihre Aussagen verstehen.
Sie gehen dieses Jahr in den Ruhestand. „Philibert & Fifi“ wird ihre letzte Ausstellung als Direktor des NS-Dokumentationszentrums sein. Was bedeutet ihnen diese Bildersammlung persönlich?
Ich habe einen großen Respekt vor diesen Arbeiten eines damals doch sehr jungen Künstlers. Und es macht mir Spaß, immer wieder Neues in seinen Bildern zu entdecken. Kürzlich habe ich sogar eine Wette verloren – es ging um eine Flasche Sekt. Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin, wo wir die Ausstellung gezeigt hatten, wollte eine Zeichnung veröffentlichen, die zeigt, wie auf der Handtasche einer Einheimischen Hitler abgebildet worden sei. Und das habe ich nicht für möglich gehalten, weil ich dachte, das wäre sofort verboten worden – unser langjähriger Grafiker Georg Bungarten glaubte das aber schon. Und er hatte Recht.
„Ich habe den Auftrag gesehen, die Karikaturen für die Nachwelt zu sichern“
Aber dennoch halte ich es für möglich, dass Philibert den Hitler erst später für sein Buch eingezeichnet hat. Vor allem ist mir persönlich Folgendes wichtig: Wir haben von Anne Charrin, der Witwe von Philibert, 2019 sämtliche Karikaturen, Zeichnungen und Dokumente aus den 1930er Jahren bis 1945 als Schenkung erhalten. Und darin sehe ich schon etwas Besonderes, dass die Arbeiten eines französischen Künstlers über die Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland ausgerechnet einer deutschen Institution übergeben worden sind. Ich habe darin den Auftrag gesehen, die Karikaturen und Zeichnungen von Philibert Charrin für die Nachwelt zu sichern. Deswegen bin ich auch sehr froh, dass es mir noch kurz vor dem Ende meiner Dienstzeit gelungen ist, die Wanderausstellung zu erneuern und vor allem alle seine Arbeiten, die wir erhalten haben, in einem schönen Buch zu veröffentlichen. Buch und Wanderausstellung sind dreisprachig – also auch französisch – damit die Arbeiten von Philibert Charrin nach so vielen Jahren auch in seiner Heimat Frankreich zur Kenntnis genommen werden können.
Philibert & Fifi | EL-DE Haus | bis 30.1.2022 | www.nsdok.de | Buchbestellung unter nsdok@stadt-koeln.de
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