Der Selbstmord ist seit Jahrhunderten gegendert. Todesarten lassen sich geschlechtsspezifisch aufteilen. Zug, Strick oder Pistole werden von Männern bevorzugt, zu Gift greifen vor allem Frauen. Insofern ist wahrscheinlich, dass sich Margarethe mit dem Unkrautvernichter E 605 umgebracht hat. Umso mehr, als der Fall angeblich historisch verbürgt sein soll. Regisseur Martin Schulze und dem Musiker Dirk Raulf vergegenwärtigen in der Hauptfigur in „Margarethe oder Der blutende Wald“ den Selbstmord der jungen Frau als ein symptomatisches Frauenschicksal der 1950er und 1960er Jahre. Das Zeitkolorit lässt sich zwar unschwer aus vielen Details der Lebensläufe oder dem längst aus der Mode gekommen Gift E 605 erschließen. Doch Margarethe ist weit mehr als ein missglückter weiblicher Lebensentwurf der Nachkriegszeit.
Auf der Bühne stehen zwei Resopaltische mit Mikrofon, Papierstapeln und Äpfeln, an denen Tomasso Tessitori und Chris Nonnast Platz nehmen. Ein dritter dient Dirk Raulf als akustischer Regietisch. Die dokumentarische Matrix täuscht allerdings. Die beiden Darsteller lesen ihren Text zwar aus Manuskriptseiten ab. Doch der Tenor ist der einer beißenden Wutrede einer zum Tod Entschlossenen. Ein Aufschrei aus dem Grab – oder aus dem „blutenden Wald“, der auf den Ort in Dantes „Göttlicher Komödie“ anspielt, an dem die Selbstmörder ihr Schicksal beklagen. „Ich verlasse meinen Posten“ lautet der erste Satz des Abends. Und dann folgt, was Margarethes Leben für immer aus dem Gleichgewicht gebracht hat: eine Vergewaltigung im Alter von 16 Jahren an einem Bahndamm. Details des Verbrechens werden als zersplitterte Fragmente einer Erinnerung beschworen: Die Blumen, der Himmel, die Strumpfhosen. Chris Nonnast verklebt sich den Mund und bemalt ihn mit Lippenstift. Verstummtes und stumm gemachtes Opfer zugleich. Denn als nicht minder verstörend erweisen sich die Reaktionen der Umwelt. Mutter und Bruder, Schule, Nachbarn haben ihr Urteil sofort gefällt: das hexenhafte schuldige Mädchen und der unschuldige Mann – mit den Äpfeln als Metapher der Verführung. Hörspielartig umkreisen und verschlingen sich die Stimmen. In Jelinekscher Manier (allerdings ohne deren Kalauer) kreiselt die Sprache immer wieder um einzelne Begriffe, die zu weit in die Geschichte zurückreichenden Leitmotiven werden. Die Anspielung auf den Wolf, die vom Märchen bis zum Nationalsozialismus Assoziationen weckt; oder das Namenstrio „Grete Eva Schneewittchen“, mit seinem Verweis das christliche Dreamteam bis zu Paul Celans Gedicht „Todesfuge“, das Margarete mit goldenem Haar der Figur Sulamiths mit aschenem Haar gegenüberstellt. Eine blonde Zopfperücke wird in Tomasso Tessitoris Händen zum Bild dieser durchaus ambivalenten Gretchen-Geschichte.
Margarethes Leben zum Tode hat sich aber offenbar weit früher angebahnt, das offenbaren ihre immer wieder betonte Fremdheit innerhalb des kleinbürgerlichen Milieus, ihr unbefriedigter Bildungshunger und vor alle die Sehnsucht nach dem nicht aus dem Krieg heimgekehrten Vater: „Wo warst du? Wo ist dein Grab?“, ruft Chris Nonnast insistierend. Etwas bemüht kulturkritisch wirken dabei die Querverweise auf die sozialen Netzwerke der Gegenwart. Nichtsdestotrotz gelingt dem Regie-Duo eine eindrückliche Vergegenwärtigung eines weiblichen Lebens zum Tode.
„Margarethe oder Der blutende Wald“ | R: Martin Schulze | 8., 9.12. & 26., 27.1. 20 Uhr | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
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