Eine auf acht Mitglieder verkümmerte Abendmahlgesellschaft begleitet eine historische Aufnahme des „Faust“-Monologs „Habe nur ach…“ mit pathetischer imitierender Mimik. Sie lauscht anschließend einer launigen philosophiegeschichtlichen Einführung ins 20.Jahrhundert und stürzt sich dann kopfüber in ein Reenactment historischer Gespräche u.a. mit Hannah Arendt, Martin Heidegger, Gustaf Gründgens und Slavoj Žižek.
Es ist ein Drahtseilakt, den Regisseurin Annette Müller mit „Der Nachbar des Seins“ (zugleich Abschlussinszenierung der Theaterakademie Köln) wagt: Unter einer weiträumigen Auslegung des Reenactment-Begriffs unternimmt sie nichts Geringeres als einen Parforceritt durch deutsche existenzphilosophische Kulturwälder, in denen auch einiges an Totholz herumliegt – und der den Begriff des Reenactments weiträumig ausdeutet. Im Zentrum stehen das legendäre Gespräch von Günter Gaus mit Hannah Arendt, sowie die Gespräche Martin Heideggers mit Rudolf Augstein und einem buddhistischen Mönch, alle aus den 1960er Jahren.
Beeindruckend ist vor allem, wie die Absolvierenden mit der Figur der Hannah Arendt umgehen. Sie erscheint zunächst als junge Frau mit Brille, Baskenmütze, Zigarette und fast hermetischem Sprachduktus, dann als breitbeinig dasitzende Philosophin, die Bier aus der Flasche trinkt und über ihr Elternhaus spricht oder später fast tänzerisch, wenn sie die Auseinandersetzung um ihr „Eichmann“-Buch kommentiert. Persönliche Sicht, historische Zeiten und Rezeption überlagern sich auf vielfältige Weise. Ganz anderes dagegen die Gespräche mit Heidegger, in denen ein parodistischer Gestus dominiert – ob er nun endlos den Tisch mit Skiern umrundet und seine Rektoratsrede von 1933 rechtfertigt oder unter konvulsivischen Zuckungen Antworten hervorwürgt. Glücklicherweise kommt nicht nur dabei, sondern auch bei einer bravourösen Parodie eines Gesprächs mit Slavoj Žižek die Komik nicht zu kurz. So komplex der Abend sein mag, klar wird allemal, dass deutsche Existenzphilosophie unterschiedliche Ansätze verfolgte zwischen Heidggerschem Seinsgeraune und Arendts politischer Theorie. Am Ende gelingen den jungen Schauspieler:innen – und darauf kommt es letztlich an – zahlreiche Kabinettstücke der Anverwandlung zwischen Reenactment und zeitgenössischer Ausdeutung, die ihnen hoffentlich den Weg in die Zukunft ebnen mögen.
Der Nachbar des Seins | R: Annette Müller | 29.-30.9. je 20 Uhr | FWT Köln | fwt-koeln.de
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