Licht an. Selbst das Chaos ist ein langer, ruhiger Fluss. So können die mitunter drastischen Umwälzungen im Zuge einer (fiktiven) Neubesetzung des Leitungspostens am FWT bei kontrolliertem Zählen bis 10.000 entspannt geschehen. Ja, alles muss anders! Keine Frage. Auch oder erst recht am Theater, dem einzigen Ort, an dem alle Probleme der Welt gelöst werden. Das bedarf der konstanten Reaktion. Doch sämtliche Gendervarianten verlieren gegen die Zeit und „Schwulsein alleine reicht eben nicht aus“, ist sich der neue Intendant bewusst. Dennoch findet sich auf dem Spielplan Schillers romantisch-verklärte, patriarchalische Hymne „Kabale und Liebe“ nebst Heinrich von Kleists-Gedenkaufführung „Detlev von Heilbronn“.
Achtung: Das Stück ist keine Komödie. Die Stückentwicklung von Philine Velhagen und Team lockt mit Witz und Esprit, um mit brachialer Wucht in die Abgründe hinter der Bühne zu stürzen. Konkurrenzkämpfe, Existenzängste, nicht enden wollende Selbstbehauptung und -verleumdung, subtile wie offen blutende Minderwertigkeitskomplexe sowie der stete Drang, die Spielstätte neu zu erfinden, um für schwer bis unmöglich zu definierbare Zielgruppen relevant zu bleiben, prägen Haus und Mitarbeiter:innen. Proben bis zur (aussichtslosen) Perfektion des Unvollkommenen, innere Widerstände gegen perfide Regieanweisungen oder die Degradierung zur bedauerten, doch allseits akzeptierten Praktikantin, die aus Budgetgründen „leider“ nicht entlohnt werden kann, prägen die Zeiten zwischen den Auftritten. Das Publikum lacht obgleich der Hilflosigkeit oder Absurdität so mancher Szene und betrauert doch die eigene Bedeutungslosigkeit im Komparsen-Dasein dieses Lebens.
Alles muss anders. Wird es schon. Dafür bedarf es nicht einmal der subjektiven Erkenntnis. Velhagen und ihrem mit kleinen Wundern gefüllten Ensemble um Nicola Schubert, Sebastian Kreyer, Emily Allan, Rebecca Hirschler und Silas Pfälzer gelingt eine empathisch-tragische Umsetzung jenes Konzepts, das eigentlich keines ist. Zwischen Eingang, Foyer und Theatersaal herrschen das pure Da- und Nichtdasein der Protagonisten in gerade einmal 5.400 Sekunden. Das bedeutet wertvolle Zeit, um sich keine Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen soll. Alles fließt. Danke, an wen auch immer. „Chapeau!“ den Darsteller:innen. Alle Lichter gehen aus. Die Show beginnt.
Alles muss anders | 19., 20., 26., 27.5. je 20 Uhr, 10.6. 20 Uhr, 11.6. 18 Uhr | Freies Werkstatt Theater | www.fwt-koeln.de
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