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Szene aus „Das Boot ist voll“
Foto: Meyer Originals

Leben nach dem Königsteiner Schlüssel

30. Januar 2014

Flüchtlingsdoku „Das Boot ist voll“ am Freien Werkstatt Theater – Auftritt 02/14

Man erinnert sich noch allzu gut an die völlig hilflose Reaktion der deutschen Bundesregierung auf das Flüchtlingsdrama vor Lampedusa. Und man erinnert sich, wie ungeachtet der Toten das neue Überwachungssystem Eurosur installiert wurde, das die europäischen Grenzen noch wirkungsvoller zu einer Festung ausbauen soll. Dass Kirchen und Initiativen auf eine Veränderungen der Flüchtlingspolitik drängten, hat kaum einen Politiker gekümmert. Und das wird es auch nach dem Abend im Freien Werkstatt Theater nicht.

Gerade hatte man noch Flüchtlingen in grünen Hosen quasi in flagranti zugesehen, wie sie aus Bodenklappen kriechen, Zäune übersteigen, wachsam um Ecken lugen, also den ganzen Bühnen-Illusionismus eines klandestinen Daseins eingesogen, da sitzt man unversehens auf der Schulbank. Es geht um das verfahrenstechnische Einmaleins des Flüchtlingsdaseins. Man lernt, dass das System, das Asylsuchende auf die Bundesländer verteilt, „Easy“ heißt, dass die genaue Anzahl nach dem Königsteiner Schlüssel ermittelt wird, dass es drei Formen des Bleibestatus gibt: Asyl, Flüchtlingsschutz, Abschiebeverbot und vieles mehr, das man sich alles nicht merken kann. Das Dokumentartheater, dass das Freie Werkstatt Theater unter Inken Kautter und Gerhard Seidel sich auf die Fahnen geschrieben hat, ist nie ganz frei von Wissensvermittlung, ob es um Sicherheitsverwahrung, Maßregelvollzug oder jetzt um Flüchtlinge geht.

Das neue Stück trägt den Titel „Das Boot ist voll“ und basiert auf zahlreichen Interviews, die Regisseur Nico Dietrich und Dramaturgin Inken Kautter mit Flüchtlingen, Abgeordneten, der Ausländerbehörde, einer Richterin, Initiativen wie Amnesty International oder einer Forscherin geführt haben. Die Eingangsfrage des Stücks markiert allerdings schon eine Schwachstelle des Abends: „Wie lange braucht es, um in Deutschland als Flüchtling anzukommen?“ Damit wird der Zuschauer zunächst gezwungen, das komplizierte administrative Procedere des Asylvorgangs nachzuvollziehen. Da die Fachbegriffe selbst den deutschsprachigen Laien überfordern, fühlt man sich schnell hilflos und damit vermutlich selbst wie ein Flüchtling. Diese identifikatorische Strategie rückt allerdings die individuellen Schicksale, die Gründe und Absichten, Wünsche und Ziele der Flüchtenden in den Hintergrund. Am bewegendsten gelingt das noch Valentin Stroh als junger Frau aus Äthiopien, die mit trotzig-abruptem Duktus ein gebrochenes Bekenntnis zu Deutschland herausschleudert, unter dem allmählich eine grausame Vergangenheit durchzuscheinen beginnt.

Allmählich lockert sich der belehrende Gestus der Inszenierung auf der mit Stühlen, Palme, Schreibtisch, Rollschrank und Monitoren möblierten Breitwandbühne im Keller des FWT auf. Man sieht Aljoscha Sena Zinflou als Journalisten, der als Cap Anamur-Mitglied vom Aufbringen eines Schiffs im Mittelmeer durch die italienische Marine erzählt oder als Forscherin auf absurde Weise beim Bodenwischen Thesen zum strukturellen Rassismus der Gesellschaft zum Besten gibt. Oleg Zhukov verteidigt als Abgeordneter auf sympathisch-eloquente Art die Dublin II-Verordnung und Sermin Kayik im Norwegerpulli wirft sich als Vertreterin von „Kein Mensch ist illegal“ Kekse verteilend in die Überzeugungs-Bresche. Die Regie ist allerdings nie ganz frei von simplen Illusionismus, wenn das plötzliche Untertauchen eines Flüchtlings mit Kamera, Flackerlicht und viel Hektik auf der Hinterbühne inszeniert wird, versteigt sich aber auch in eine Travestieszene mit einer Sprachlehrerin mit ihren drei von den männlichen Schauspielern verkörperten Schülerinnen.

Wo immer eine linksliberale Tür offen steht, der Abend rennt sie ein; er polarisiert nicht, präsentiert fast nur Figuren, die selbst Zweifel hegen. Man fragt sich, warum sich dann eigentlich nichts ändert, wieso es bis heute keine verbindlichen Schutzstandards oder vergleichbare Anerkennungsregularien in Europa gibt. Weil solche Abende, so gut sie gemeint sein mögen, vom schlechten Gewissen entlasten. Auch das fällt nämlich unter die kathartische Wirkung des Theaters: Beschwichtigung.

„Das Boot ist voll“ | R: Nico Dietrich | 12., 13., 22.2. 20 Uhr | Freies Werkstatt Theater |0221 32 78 17

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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