Der König hängt ziemlich tot in den Seilen. Das Gesicht maskenhaft weiß, auf dem Kopf die blutrote Krone. Der König ist tot, es lebe der König. Wie ein Memento lümmelt der von Macbeth umgebrachte Duncan im Plastikgestühl im Theater im Ballsaal.
Davor plaudert ein egomaner Schauspieler über seine neue Rolle. Es geht um Eitelkeiten, um Freiheit, um Allmachtsgefühle, doch darunter lauert eine tiefe Angst: vor dem Regisseur. Die theaterreflexive Etüde „Die Rolle des Macbeth“ von Ivo Briedis montiert ein inneres Stimmengewirr auf mehreren Ebenen, das David Fischer mit der ihm eigenen ängstlichen Nonchalance über die Rampe bringt. Später begibt sich der Regisseur selbst ins Zentrum, der die Leiche des Schauspielers identifizieren muss und dem die Polizei bedrohlich ankündigt, ihn im Auge zu behalten.
An wild gewordenen Usurpatoren der Macht à la Macbeth, die entweder auf dem Weg zur Thronsessel oder schon angekommen sind, fehlt es derzeit nicht: Von Polen über Ungarn, die Türkei, Russland, die USA bis zu den Philippinen. Insofern war es eine bestechende Idee des Fringe Ensembles, unter dem Titel „Macbeth over Europe“ sechs Autoren aus Europa und Russland um dramatische Fantasien über Shakespeares Figur zu bitten. Einzige Bedingung: Die Zeit ist jetzt und es muss ein Zitat aus der Vorlage vorkommen. Anders als bei dem großen Autorenprojekt „Vor den Hunden“ von 2014 bleiben die Stücke von Alexander Molchanov, Ivo Briedis, Ceren Ercan, Goran Ferčec, Lothar Kittstein und Marie Nimier diesmal allerdings sehr heterogen. Der kleinste gemeinsame Nenner lässt sich in einem dumpfen Empfinden eines Unbehagens und der Bedrohung ausmachen. Neben Briedis wird das in Goran Ferčecs Groteske „Jedes blaue Arbeiterhemd ist einen Welle, die gegen die Wand des Kapitalismus schlägt“ über die wahnhafte Omnipotenz eines Unternehmers besonders deutlich. Als letzter seiner Art verharrt er im Penthouse eines Glasturms, schaut gelangweilt auf die Arbeiter zu seinen Füßen und besingt obszön die Macht des Kapitalismus. In einer unglücklichen szenischen Lösung wird Manuel Klein in einem Passbild-Automaten hereingeschoben, sein Konterfei erscheint nur auf einem Bildschirm, erst später tritt er vors Publikum. Deutlich aber bleibt seine Angst vor steigenden Fluten, die ihm die Arbeiter per SMS ankündigen – wie einst die Hexen den Wald von Birnam.
Während Alexander Molchanov eher eine ziemlich blasse Komödie zur Macht als Frage der PR abgeliefert hat, beschäftigen sich die restlichen Stücke offen oder subkutan mit den Themen Flüchtlingen und Terror. So sinniert Lothar Kittstein in einer Stimmenpartitur über Eigenes und Fremdes, Gäste in der eigenen Wohnung und das Spenden. Die türkische Autorin Ceren Ercan wiederum lässt Banquos fliehenden Sohn Fleance hochaktuell auf den kurdischen Flüchtling Idris treffen. Der eine kommt aus dem Westen, der andere aus dem Osten. Beide auf der Flucht vor Autokraten. Fleance ermordet Idris und geht mit dessen Identität durch die Welt, ohne das Ziel ihrer gemeinsamen Rache zu vergessen. Frank Heuel inszeniert die ausgeschriebenen Dialoge fast realistisch mit zugewiesenen Rollen, Plastikplane als Fluchtmetapher und Regen. Die Französin Marie Nimier dagegen stellt im Nachklang der Attentate von Paris einen schlichten Fragenkatalog auf. Ein Katalog, der vom Intimen bis zum Politischen nach der Moral der Gesellschaft fragt. Selbstverständlichkeiten stehen plötzlich in Frage, implizites Einverständnis wird brüchig, alles gerät auf den Prüfstand. Nicole Kersten gelingen durchaus Momente der Eindringlichkeit, wenn auch manches zu selbstverständlich gerät.
So stark das ein oder andere Stück sein mag, dem Abend fehlt letztlich die vereinende ästhetische Idee, aber auch der zwingende Zugriff. Man hätte sich von Frank Heuel eine stärker akzentuierende und weniger rücksichtsvolle Interpretation der Texte gewünscht, die weder auf Drastik, noch auf Eindringlichkeit verzichtet. Letztlich: zu viel Text, zu wenig Theater.
„Macbeth over Europe“ | R: Frank Heuel | Fr 27., Sa 28.5. 20 Uhr | Theater im Ballsaal | 0228 79 79 01
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