In seiner aktuellen Produktion „Die Lage“ mutiert das Freie Werkstatt-Theater zur Freien Wohn-Treuhand, die Immobilien im Herzen der Kölner Südstadt offeriert. Ein „exklusives Loft“, das sich als sanierungsbedürftiger Altbau herausstellt, verlangt von den Interessenten neben überzogenem Mietzins absurde Belege für die Eignung als qualifizierte Nachbarn innerhalb eines bizarren Wertesystems. Vorortmessungen zum Dezibel-Wert des Schnarchens und die akustischen Erschütterungen im Zuge sexueller Aktivitäten („Bitte stöhnen Sie kurz, aber aussagekräftig!“) offenbaren in überspitzter Art den Eingriff in die Privatsphäre. Latenter Rassismus angelehnt an die Hautfarbe („Wo kommen Sie her?“) sowie die Verdrängung langjähriger Bewohner zugunsten einer solventen Klientel reduzieren den freien Wohnungsmarkt als gnadenlose Profitmaschinerie mit Casting-Charakter, die sozial benachteiligten Menschen im besten Fall eine Abstellkammer mit Matratze oder die (temporäre) Nutzung des Balkons als Zuhause gewährt.
Regisseur Kay Link changiert in der Adaption von Thomas Melles Textvorlage zwischen nacktem Beton, der zum hippen Industrial-Style stilisiert wird, und einer Bühne auf der Bühne, deren Vorhang die Schatten ausbeuterischer, sexistischer oder sadistischer Vermieter projiziert. Mit dem Abgesang auf ethische Grundsätze verhöhnt das intensiv agierende Darstellerensemble um Michel Kopmann, Anja Jazeschann, Mirjam Radovic und Charles Ripley als antiker Chor eine Gesellschaft, die sich in ihrer bemühten Abgrenzung Mauern erschafft, hinter denen Lebensqualität zur kurzzeitigen Zwischenstation auf dem Weg zurück in die Höhlen verkommt. Im Wechsel zwischen Satire und Tragik pirscht sich während der 100-minütigen Aufführung ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Zuschauerränge.
„Die Lage“ beleuchtet mehr Netto-Quadratmeter-Fläche als die Metropole bietet. Lauter werdende Rufe nach Enteignung, die arrogante Lässigkeit einer selbstverliebten Oberschicht, städtische Interessensvertreter – schwankend zwischen sozialem Gewissen und Investoren-Geilheit – sowie das verzweifelte Aufbäumen gegen die drohende Obdachlosigkeit legen in dem sehenswerten Stück den Nährboden für kommende Kämpfe um urbanen Lebensraum.
Die Lage | R: Kay Link | 8., 11., 12.12. | Freies Werkstatt-Theater Köln | 0221 32 78 17
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wo ist Ich?
„Fleischmaschine“ am FWT – Theater am Rhein 02/24
Das 360-Grad-Feedback
„Fleischmaschine“ am Freien Werkstatt Theater – Prolog 01/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Die fünfte Gewalt
FWT mit neuer Besetzung – Theater am Rhein 11/23
Menschliche Abgründe
„Mister Paradise“ am FWT – Theater am Rhein 11/23
Vorbereitung aufs Alter
„Die Gruppe“ im Freien Werkstatt Theater – Prolog 09/23
Rechtfertigung auf Skiern
„Der Nachbar des Seins“ am FWT – Theater am Rhein 08/23
Groteskes Reenactment
„Der Nachbar des Seins“ am FWT – Prolog 07/23
Muss alles anders?
„Alles muss anders“ am FWT – Theater am Rhein 05/23
Spätes Licht
Studiobühne zeigt „Nachttarif“ – Theater am Rhein 04/23
Sehnsucht nach einer Welt, die einem antwortet
„Alles in Strömen“ am Freien Werkstatt Theater – Auftritt 03/23
Mehr Solidarität wagen
Die Theater experimentieren mit Eintrittspreisen – Theater in NRW 01/23
Mut zur Neugier
„Temptation“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 04/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Wahllos durch die Zeitebenen
„Schlachthof Fünf“ am Theater im Ballsaal – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Lesarten des Körpers
„Blueprint“ in der Außenspielstätte der Tanzfaktur – Prolog 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24