In Gößners Kindertheaterstück ziehen Schausteller:innen umher und erzählen ihre Geschichten abseits von Normen und binären Geschlechtsidentitäten.
choices: Herr Gößner, befassen sich Kinder heute auch schon mit Geschlechterdiversität bzw. -binärität – oder haben wir Erwachsenen das bisher nicht bemerkt?
Sergej Gößner: Ob das angekommen ist, im Sinne eines Diskurses in Familien und Kindertagesstätten, weiß ich nicht. Aber wenn man sich genderbasiertes Marketing anschaut, sind die Dinge in den letzten 20 Jahren eskaliert. In den 90ern war das noch sehr anders. Ich hatte als Junge selbstverständlich lila- und rosafarbene Sachen an. In meiner Teenagerzeit wurde das extremer. Wenn man in einen Spielwarenladen ging und nach einem Geschenk suchte, wurde nicht gefragt, „Wie alt ist das Kind?“, sondern, „Junge oder Mädchen?“. Dann wurde man in die blaue oder rosafarbene Ecke geschickt.
„Der fabelhafte Die ...“ hatte seine Uraufführung bereits 2022. Wie haben die Kinder bisher darauf reagiert?
Ich bin leider nicht immer dabei. Aber die Rückmeldungen sind toll. Man hat mir von der Uraufführung berichtet, dass sich zwei Jungs nach dem Stück austauschten und einer gesagt habe: „Das war geil.“ Gerade das hat mich berührt, weil ich darüber gelesen habe, dass Jungen im Alter von neun anfangen, vor lauter Coolness zu „erfrieren“, weil sie sich Gefühle absprechen (s. „Prinzessinnenjungs – wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien“, Nils Pickert, Verlagsgruppe Beltz, d. Red.). Das hat natürlich mit unserem Männerbild zu tun.
Und die Erziehungsberechtigten?
Gute Frage. Vor einigen Jahren gab es in Baden-Baden ein Stück, in dem ein schwules Känguru vorkam („Ein Känguru wie Du“, Ulrich Hub, d. Red.). Das führte seitens der Eltern zum Boykott und schließlich zur Absetzung. Das ist zum Glück bei mir nicht eingetreten, insofern kann ich nicht allzu viel über die Reaktion der Eltern sagen.
Wie führen Sie die jungen Zuschauer:innen an den Stoff heran? Was ist z.B. dramaturgisch erlaubt, was nicht?
Ich versuche, auf Sehgewohnheiten und das Konsumverhalten der Kinder einzugehen. Viele sitzen in dieser Altersgruppe absurderweise schon lange Zeiten vor dem Tablet oder Handy. Ich versuche, das in der Erzählweise, dem Tempo und der Sprache einzufangen. Gleichzeitig möchte ich auch etwas Märchen- und Zauberhaftes entwerfen. Der Text ist beispielsweise komplett in Reimen verfasst.
Was konsumieren die Kinder nach Ihren Recherchen?
Früher gab es ein überschaubares analoges Angebot, „Die Sendung mit der Maus“ oder „Sesamstraße“. Da hat man zwar auch in den Kasten geguckt, aber es gab nicht dieses Überangebot und vor allem nicht diese Geschwindigkeit, mit der Medien konsumiert werden, etwa auf Tiktok. Letzteres überfordert mich komplett. Man unterschätzt Kinder aber oft, wie schnell sie Neues aufgreifen und verarbeiten können.
Nun geht es in Ihrem Stück nicht um Konsumverhalten, sondern um sexuelle Identitäten. Wie kann man das kindergerecht gestalten?
Es geht gar nicht um sexuelle Identität, es geht um das Infragestellen von Normen, um Binarität, Mann, Frau, Rosa, Blau. Es geht um Geschlechtsidentität. In der Geschichte treffen wir beispielsweise auf die Ente Klaus, die auf der Story vom „Hässlichen Entlein“ basiert. Ich habe mich daran gestört, dass das Tier solange hässlich war, bis geklärt wurde, dass es ein Schwan ist. Danach passte alles wieder in unsere Normativität. Die Welt war wieder in Ordnung. Ich habe versucht, solche sinnliche Figuren zu kreieren und in einen Zirkuskosmos zu integrieren, um die Kinder abzuholen.
Können Sie uns einen Einblick in die szenische Gestaltung geben?
Im Idealfall sieht das so aus, als säße man in einem flirrenden Zirkuszelt.
Ihre drei Darsteller:innen sind junge Erwachsene. Wie hat sich das Ensemble auf die Geschichte vorbereitet?
Die habe ich heute (26.11.25, d. Red.) erst kennengelernt. Ich habe die Auswahl an die Comedia abgegeben und hatte entsprechend vollstes Vertrauen. Das sind tolle Schauspieler:innen, die Lust auf eine Zusammenarbeit haben. Vorab habe ich lediglich erfragt, wie es um deren Musikalität steht, da auch gesungen werden soll.
Welche Rolle spielt die Musik in dieser Produktion?
Musik ist eine wichtige Ebene. Auch, um das Setting auf der Bühne klarer zu ziehen, soll viel mit einem Harmonium gearbeitet werden, was vom Klang an eine Drehorgel erinnert. Das von mir erwähnte „Flirren“ wird musikalisch unterstützt. Es kommt außerdem immer wieder ein Jingle zu einem von mir erfundenen Produkt vor.
Was ist das für ein Produkt?
„Köttelspeiers Rülpskompott – kurz gerochen, schon erbrochen.“
Klingt vielversprechend. Das sollten Sie sich patentieren lassen. – Wie unterscheiden sich eigentlich Stücke ab 6 oder 8 Jahren?
Das hat etwas mit der Komplexität der Sprache zu tun. Die Frage ist: Inwiefern können die Kinder da andocken? Es gibt jedoch unterschiedliche Einschätzungen. An manchen Häusern wurde das Stück ab 9 oder erst ab 10 empfohlen und manchmal, wie in unserem Fall, ab 8 Jahren.
Die Reimform ist vermutlich kindgerecht. Doch besteht nicht auch die Gefahr einer Bagatellisierung oder Verniedlichung von Lebensidentitäten?
Es ist gar nicht so brav, auch nicht verniedlichend, stellenweise eher anarchistisch. Es gibt kein durchgängiges Versmaß. Das wird immer wieder bewusst gebrochen. Weg von der Norm! Außerdem möchten wir mit „Der fabelhafte Die“ eine eigene Welt mit Sogwirkung erschaffen. Einerseits kann man relativ schnell vergessen, dass hier überhaupt gereimt wird. Es soll aber auch den Spaß fördern, die Geschichte mitzugehen.
Wie wichtig sind dafür die grammatischen Geschlechter?
Definitiv wichtig. Es gibt jetzt schon diverse Studien, die zeigen, das Mädchen im Kita-Alter sich viel eher vorstellen können, männlich konnotierte Berufe auszuüben. Es hat einen Impact, ob ich über Ärzte oder Ärztinnen spreche. Sprache formt unser Bewusstsein und unseren Blick auf die Welt.
Erklären Sie bitte die besonderen „Relaxed Performances“.
Die sind für Personen, die sich vielleicht sonst scheuen würden, zu den Performances zu kommen, weil sie bestimmte Bedürfnisse haben. Hier bleibt zum Beispiel die Saaltüre offen, das Licht bleibt gedimmt. Oft sind die Toneinsätze etwas leiser. Die Spielenden wissen Bescheid und agieren vielleicht in manchen Situationen zurückhaltender. Den Zuschauer:innen wird vorher erklärt, dass sie den Raum auch verlassen dürfen und wieder zurückkommen können oder es erlaubt ist, sich umzusetzen.
Wie verschieden sind aus Ihrer Erfahrung im Theater die Aufmerksamkeitsspannen von Kindern und Erwachsenen?
Kinder sind da deutlich anarchistischer als Erwachsene. Ich habe selbst zehn Jahre für diese Zielgruppen gespielt. Kinder zeigen einem unmittelbar, ob sie etwas mögen oder nicht. Es ist ihnen wurscht, ob ich im „Polizeiruf“ mitspiele. Das interessiert sie nicht. Entweder die Vorstellung fetzt oder eben nicht.
Sind auch Gastspiele an Schulen möglich?
Ja, natürlich. Dazu gibt es gesonderte Tourbuchungen, die auf den Stückseiten der jeweiligen Theaterhäuser stehen (0221 88 87 73 15, theresa.koster@comedia-koeln.de, d. Red.)
Was haben Sie von Kindern und deren Selbstwahrnehmung gelernt?
Ich habe keine Kinder, aber Patenkinder, Nichten und Neffen. Außerdem war ich auch mal Kind und habe nicht „gepasst“. Ich komme aus einer Sportlerfamilie, habe mich aber eher für Glitzer, Malen, Kochen und Backen interessiert. Es gab immer wieder Sätze wie: „Der Sergej wäre lieber ein Mädchen geworden.“ Das stimmte einfach nicht. Ich möchte den Kindern sagen, dass es vollkommen okay ist, anders zu sein. Das Männer- und Frauenbild von heute ist so beliebig. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist Rosa und Blau: Noch vor 150 Jahren war Rosa die Jungenfarbe – das „kleine Rot“, also etwas Königliches – und das zarte Hellblau die Mädchenfarbe. Auch Pumps, Stöckelschuhe, High Heels kommen ursprünglich von osmanischen Kriegern, die durch ihr Schuhwerk einen besseren Halt im Steigbügel ihrer Pferde hatten. In fast allen Hochkulturen haben sich Männer geschminkt. Es macht mir immer wieder Freude, klarzumachen, wie „random“ diese Geschlechterbilder sind.
Warum sollten auch Erwachsene in das Stück gehen?
Genau aus diesem Grund. Ich glaube, dass auch Erwachsene hier sehr viel mitnehmen können. Im besten Fall ist es eine kleine Empathieschule.
An welchem Nachfolgeprojekt arbeiten Sie?
Als nächstes folgt im März 2026 die Uraufführung „Zehner“ von Faya Koch in Konstanz.
Der fabelhafte Die – Eine erstaunlich bunte Sammlung willkürlich aneinandergereihter Geschichten aus aller Welt *nicht gesungen, aber gereimt | 17. (P), 18., 20., 21., 22.1., 4., 5.3., 7.3. (Relaxed Performance), 6., 7.5., 9.5. (Relaxed Performance) | Comedia Theater | ab 8 Jahren | 0221 88 87 72 22
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