„Ist er schon gekommen, der große Tag?“ – woran erkennt man das Ende und wie sieht es aus? In ihrer neuen Arbeit „This is not a swan song“ entwerfen die elektro-akustischen Berliner Musiker Marion Wörle und Maciej Śledziecki aka Gamut Inc den Untergang als Gesamtkunstwerk. Den Rahmen dafür bildeten die letzten Worte berühmter und unbekannter Menschen, die von Ernst Jünger zusammengetragen wurden: „Ein Mosaik, dessen Steinchen zwar zufällig geformt sind, doch dessen Ganzes ein Bild ergibt.“
Im Mittelpunkt der Bühne steht eine Kreatur, dargestellt von Schauspieler Jordan Rountree. Komplett in weiß gehüllt, von den Schuhen bis hin zu künstlichen Linsen, wiederholt er immer gleiche Bewegungsabläufe. Zu Beginn wird zur Meditation aufgerufen: „Unser Bunker ist so gut und schön und sicher“ – man solle sich einfach entspannen und fallenlassen. Doch die vermeintliche Ruhe wird schnell unterbrochen: Zu verstörend wirken die unmenschlichen Bewegungen der Kreatur, die unruhigen Videoprojektionen und die musikalischen Störgeräusche. Dazu der „Chor der letzten Worte“, bestehend aus acht SängerInnen, der das Libretto der Amerikanerin Leslie Dunton-Downe singt, zischt und faucht.

So wurde man immer weiter in einen Sog von Bildern und Assoziationen gezogen, die ganz unterschiedlich aussahen: Der Chor versucht die ausgestorbene Sprache der Tasmanier zu rekonstruieren; währenddessen sieht man auf der Leinwand hieroglyphenartige Zeichen flimmern. Rountree sitzt am Lagerfeuer (ein Haufen knisternder Glühbirnen) und spricht eine Geschichte in ein altes Aufnahmegerät. Begleitend sanfte Gitarrenklänge und Trommellaute, mitunter gespielt von Perkussionist und Lichtkünstler Michael Vorfeld, der das Stück außerdem um einige selbstentworfene vielsaitige Monochorde und Perkussionsinstrumente bereichert. Als der Bass so stark aufgedreht wird, dass man ihn im ganzen Körper spürt, kann man sich dem Erlebnis nicht mehr entziehen.
Schließlich liegen für Rountree silberne Astronauten-Handschuhe und Helm bereit, die er sich unter der Aufforderung des Chors („Komm, komm, komm“) anlegt: ein kleiner Daft-Punk-Moment. Kurz darauf verschwindet er hinter der Leinwand, sodass man nur noch seinen Schatten erahnen kann: „I’m so happy.“ Bedeutet das Ende vielleicht vielmehr einen Neuanfang in einer anderen Dimension?
Das Stück endet mit einer Videoprojektion der berühmten russischen Balletttänzerin Anna Pavlova. Eine kurze Sequenz aus ihrer Schwanensee-Interpretation wird zeitversetzt vervielfältigt, bis die Auflösung immer schlechter wird: Zuletzt sieht man nur noch tanzende Pixel – Anna Pavlova ist verschwunden.
„This is not a swan song – Ein Musiktheater über das Ende“ | weitere Vorstellungen in Berlin und München | gamut-ensemble.de
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