Alle Welt reist. Als neue Freizeitaktivität und auch als Muss für jegliche persönliche Entwicklung. Gerade der Sommer lockt wieder in die Ferne. Aber kann uns das Reisen wirklich in unseren Bedürfnissen befriedigen? Und wie sieht es aus mit der Erweiterung des Horizonts, den Sinnsuchen und Neuanfängen? Genau diesen Fragen gehen Laurenz Leky und René Michaelsen mit ihrem Programm „Sommerloch“ auf den Grund. Prominente Unterstützung erhalten sie dabei von keinen geringeren als Goethe, Tucholsky und Co. Schon im März begeisterte das Ensemble um Bernd Schlenkrich bei der lit.Cologne mit dem literarischen Potpourri.
„Hier ist der Himmel blau, aber dort ist der Himmel blau-blau!“, beginnt Leky den Abend mit einem euphorischen Dia-Vortrag. Zu an die Wand geworfenen Motiven berichtet er von seinem Urlaubserlebnis. Und verfällt zwischendurch ins Englische, denn sorry – als Kosmopolit kommt einem das Deutsche schon mal abhanden. Leky schließt seinen Vortrag mit einem ungläubigen Ausruf: „Wie könnt ihr euch widerstandslos von so einem selbstherrlichen Mist berieseln lassen?“
Es folgt ein literarisches Intermezzo mit Michaelsen, der mit Goethes „Italienreise“ die Treppe herunterschwebt. Die beiden Darsteller nehmen hinter ihren Pulten Platz, und abwechselnd ins Licht der Scheinwerfer getaucht, erfüllen sie das leere Schwarz der Bühne mit bunten Bildern von Zitronen und Bussen voll reisewütiger RentnerInnen.
Gespickt mit Tanz- und Gesangseinlagen, tiefsinnigen Überlegungen („Man kann sich nie selbst entfliehen“) zitieren die beiden alte Meister und entführen den Saal so auf eine Reise des Reisens. Angefangen mit Theodor Fontanes „Modernem Reisen“ von 1873 wird eine Massenbewegung geschildert, die sich jedoch mehr und mehr als Individualtourismus tarnt. Früher noch in der Studi-WG auf der Couch geschlafen, erhält man heute bei Airbnb gegen Aufpreis „eine Unterkunft ganz nah am Leben“. Kommerz und Kalkulierbarkeit. Erleuchtung in Indien und Auslöschung an der Costa Brava. „Kann denn eine Reiseerfahrung nicht auch mal scheiße sein?“, ruft Michaelsen trotzig aus. „500 Seiten ungebändigtes Reiseglück bei Goethe. Das will einfach niemand lesen!“
Dann doch lieber authentische Quälereien wie die Kreuzfahrterfahrung von David Foster Wallace, der Geschäftsmänner am Infocounter beobachtet, als diese geistreiche Fragen wie „Schläft die Crew auch an Bord?“ stellen. Worte, die Gelächter auslösen – aber auch zur Selbst-Reflexion anhalten. Die Deutschen als reiselustiges Völkchen, die im Grunde nichts anderes wollen, als sich selbst zu entkommen. Leky schwärmt vom irischen Pub-Abend, an dem er ganz die Identität der grünen Insel annahm – bis auf einmal die Tür aufging: „Hello, I´m Rolf. How do you do?“ Da wir sowieso überall nur unsere eigene Innensicht wahrnehmen, können wir das genauso gut in Hannover machen wie in Buenos Aires. H&M und Matcha-Latte to go gibt es sowieso in beiden Städten.
Und außerdem setzt ein freier Geist keine Erfahrung voraus. Karl May, der alte Western-Pionier, hatte bei der Kreation von Winnetou noch nie einen Fuß nach Amerika gesetzt. „Erfahrung wartet da, wo wir uns ihr öffnen. Lassen Sie uns Zuhause bleiben!“ Sprechen die beiden und entlassen das Publikum in die schöne Kölner Nacht.
„Sommerloch. Eine Reisewarnung“ | R: Leky / Michaelsen / Schlenkrich | 20.-22.7. je 21 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
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