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Bernd Schlenkrich, René Michaelsen, Laurenz Leky (v. l.)
Foto: Thomas Dahl

„Mein Bild für den Bauturm ist der Fliegenpilz“

19. Oktober 2023

Das Leitungsteam des Theaters im Bauturm zu dessen 40-jährigem Bestehen – Interview 10/23

Im Interview beschreiben Laurenz Leky (Theaterleitung), René Michaelsen (Dramaturgie) und Bernd Schlenkrich (Geschäftsführung) das Theater im Bauturm und ihre Arbeit in freien Assoziationen und persönlichen Erinnerungen.

choices: Herr Leky, Herr Schlenkrich, Herr Michaelsen, nennen Sie mindestens 4 und maximal 40 Metaphern, die das Theater im Bauturm  beschreiben.

Laurenz Leky: Grüngürtel, Wildnis, Kaffee, das Abendlicht auf der Aachener Straße, Weinen, Kongo, Debatte, Enge, Tiere, Sterne, der Satz „Dat habt er jot rübberjebracht“, Radikalität, Pathos, Intimität, sehr alte und sehr junge Menschen.

René Michaelsen: James Brown, „Damn right, I am somebody“, uferlose Gespräche, Konflikt, Termine, nach denen man einen Song anmacht und tanzt, das Fenster zur Straße, das Vodkatablett nach den Premierenfeiern für Alle, der Song „The Dark End of the Street“, Großzügigkeit, Liebe, Dissens, Bernds Müsli, produktive Unordnung, beflügelnder Zeitdruck, Kinder, Interviews, Coaching.

Bernd Schlenkrich: Verwandtschaft, Gitarre, Posaune und Schellenkranz, erlösendes und befreiendes Lachen, Köln, Ghostbusters, Affe, Pilz, Verbindungen, Frederik Werth.

Die mediale Berichterstattung über Jubiläen ufert nicht selten in beschönigende oder sentimentale  Rückschauen und euphorische Zukunftsperspektiven aus. Ich würde von Ihnen gerne ein rigoroses Bildnis der Gegenwart erhalten. Wie sieht das Jetzt für das Theater im Bauturm aus? 

LL: Mein radikales Bild für den Bauturm ist der Fliegenpilz. Der eigentliche Pilz ist unterirdisch. Es ist ein Geflecht, das den Pilz mit anderen Pilzen, Bäumen und Pflanzen verbindet. Das ist die Stadt. Das ist Köln. Das sind unsere Verbindungen. Der Großteil des Bauturms ist wie ein Eisberg unsichtbar. Was sichtbar ist, ist dieses Haus hier. Das ist der Fliegenpilz. Der sieht schön aus und ist leicht halluzinogen.

Bitte schildern Sie nun jeweils eine persönliche Erinnerung aus Ihrer bisherigen Zeit am Bauturm.

RM: Der Moment, der für mich entscheidend ist, ereignet sich mehrfach im Jahr. Wir spielen zusammen „Die Weihnachtsfeier“. Am Schluss wird dieser armselige, überforderte Chef von seinem viel kreativeren, aber hierarchisch untergeordneten Mitarbeiter erlöst. Dann kommt es zu der Dirty Dancing-Choreographie, wo wir aufeinander zulaufen. Ich springe von der Bühne, Laurenz nimmt mich an den Beinen und wirbelt mich durch den Saal. Dann fallen wir hin. Das ist einer der wenigen absolut bombensicheren Theatermomente, die jemals gebaut worden sind. Es gab keine Vorstellung, in der dieser Moment nicht für Jubel gesorgt hat. In diesem Moment kann ich nicht trennen zwischen einer schauspielerischen und einer echten Erlebnisenergie.

LL: Dazu möchte ich was ergänzen – das Kölner Klima im Dezember: Es gibt keinen Schnee im Winter, aber Köln wird diesig. Ich denke, dass sind die alten Rheinsümpfe. In der Weihnachtszeit wird es nebelig. Am besten ist es in der Blauen Stunde, wenn die Sonne untergeht und um die Straßenlaternen eine Corona leuchtet. Dann hast du das Gefühl, du kannst die Luft greifen. Es verbindet sich mit der allmählich dichter werdenden Zeit, die auf Weihnachten zugeht, dieser wachsenden Hysterie, dem Weihnachtsmarkt am Rudolfplatz. Eigentlich dehnt sich das Theater dann mindestens bis zum Rudolfplatz aus. Man sieht dort schon das Publikum, das gleich in die Show kommt. Wir spüren beim Einlass den Alkoholpegel. Du sprichst den ersten Satz und man kann sich auf ein Kissen aus Glühwein setzen. Nach Weihnachten kannst du die Show nicht mehr spielen, sie lebt von der gesamtgesellschaftlichen Hysterie der Weihnachtszeit.
            
Welche Bühnenszene ist Ihnen darüber hinaus haften geblieben?

LL: Bei mir ist es „Moby Dick“. Das Stück fängt mit der minutenlangen Aufzählung von Walarten und ihren Unterarten an. Das Werk eines Wal-Nerds wurde auf die Bühne gebracht – und es ist absolut spannend. Die Schauspieler kommen auf die Bühne und du siehst in ihren Augen, sie sind wahnsinnig. Sie sind besessen von Walen, gehen durchs Publikum und zählen die ganzen Arten auf. Ich habe selten einen spannenderen Moment gesehen, weil sich hier die ganze Jagd, der ganze Hass, die ganze Obsession auf das Tier schon entlädt. 

Sie agieren selbst als Darsteller. Was nehmen Sie auf der Bühne wahr, das Ihnen im Zuschauerraum verwehrt bleibt?

LL: Ich war das erste Mal nach Corona bei den Kollegen von der Comedia wieder im Theater. Der Clou für mich war gar nicht so sehr das Live-Erlebnis auf der Bühne, sondern meine Mitzuschauer:innen. Ich erlebe das mit 400 Leuten gemeinsam im Raum. Die reagieren, dadurch reagiere ich mit. Ich reagiere mit denen auch synästhetisch. Die bringen mich in eine ganz andere Wallung, als wenn ich das Stück alleine sehen würde. Wir fangen gemeinsam an zu schwingen, sind ein Körper. Orson Welles hat das Publikum als „that one beast in the dark“ beschrieben, das wie ein einzelner Organismus reagiert. Da sind bei uns im besten Fall 120 Zuschauer, die sich vorher überlegen, was sie sich anziehen, vielleicht schminken sie sich, rufen Freunde an, mit denen sie sich zur Vorstellung treffen. All diese Energien kommen an dem Abend zusammen. Das spürst du im Saal. Es geht über das, was die Künstler leisten, hinaus. 

BS: Ich bin häufiger im Publikum als auf der Bühne. Ich merke, wie sehr mich der Rausch reizt, wenn ich im Publikum bin. Wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich Teil dessen, was den Rausch auslöst. Ich erlebe diesen Rausch ganz anders. Es macht glücklich. Ich denke dann immer: Was habe ich getan? Sicherer fühle ich mich auf der anderen Seite.

RM: Es kommt relativ oft vor, dass die Leute im Publikum antworten oder etwas kommentieren. Unser Theater ist responsiv.

BS: Ich glaube, deshalb machen wir in den Inszenierungen auch so oft das Licht an, ansonsten ist es für einen Dialog schwierig. Wir wollen damit signalisieren, dass wir nicht nur so tun, als ob wir mit euch reden wollen – wir reden wirklich mit euch.     

Sie treten jedoch vor allem als Trio für die Bereiche Hausleitung, Geschäftsführung und Dramaturgie auf. Existieren literarische Charaktere, die ihren Rollen ähnlich sind?

RM: Ein Buch, dass ich immer wieder lese, ist „Tante Julia und der Kunstschreiber“ von Mario Vargas Llosa. Es hat eine Figur, die so fantastisch ist, dass ich mich nicht an ihr satt lesen kann: Den Hörspielautor Pedro Camacho. Ein Mann, der als Kunsttalent gilt. Er ist ein wahnsinniger Exzentriker, der nur in seiner Kunst lebt und alles, was er erlebt, aufnimmt und in die Kunst einfließen lässt.

LL: Schiller, Karl Moor! Oftmals hat ja ein Großteil unseres Berufs damit zu tun, dass wir organisieren, E-Mails schreiben, uns künstlerisch zu Tode verwalten. Dann ruft es mir manchmal aus der Brust: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksendem Saekulum!“ („Die Räuber“, Anm. d. Red.) Mein Geschäft ist aber die Präsenzkultur. Mitunter rufe ich auch aus: „Hier wird zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre!“

BS: Ich habe manchmal das Gefühl, bei mir ist es eine Mischung aus Robinson Crusoe und Gordon Gekko (Protagonist im Film „Wallstreet“, Anm. d. Red.). Ein skrupelloser Broker, der über Leichen geht, um seine Ziele zu erreichen. Das ist bei mir natürlich nicht der Fall. Du bist in einer Umgebung, die du dir neu erschließen musst. Man entwickelt eine Leidenschaft, es schaffen zu wollen. Es ist der Versuch, die bestmöglichen Bedingungen aus den Verhältnissen, in denen ich mich befinde, herauszuholen.

RM: Wir hatten übrigens noch keinen Geruch.

Dafür könnte sich die folgende Frage eignen. Vorsicht, es folgt eine Unterstellung: Im Theater wurde bereits alles erzählt und abgebildet. Sprache sowie Darstellungen wiederholen sich lediglich in anderen Körpern. Wie könnten neue Formen der Inszenierung aussehen, klingen, schmecken?

LL: Ich habe letztes Jahr eine Ausbildung zum Wildnispädagogen gemacht. Wir haben zu derselben Zeit im Grüngürtel unter freiem Himmel Theater gemacht. Dann siehst du ein Rotkelchen und denkst: Ah! Rotkelchen. Aber uns wurde gesagt: „Versucht zu vermeiden, die Vögel zu bestimmen.“ Der Name „Rotkelchen“ gibt uns die Möglichkeit, das Phänomen „Rotkelchen“ zu verwalten. Wenn du das Tier ohne Namen anguckst, singen hörst, würdest du vermutlich wahnsinnig. Wovon singt es denn? Wovon erzählt das? Oder ein Buchenblatt. Du siehst jeden Tag Millionen von Buchenblättern. Aber nimm mal im Frühling eins in den Mund und du schmeckst Grün. Du schmeckst Chlorophyll. Du schmeckst die Essenz des Lebens. Und das ist im besten Fall Theater. 

BS: Mein Geruch wäre Schweiß. Aber ein anderer als den, den man als unangenehm empfindet. Es ist nicht Angstschweiß oder Schweiß totaler Erschöpfung, sondern einer Herausforderung, der man sich leidenschaftlich stellt und die man beackert.

LL: Es gibt noch eine Sache, ohne die man dieses Theater nicht verlassen darf. Jeder hat hier auch mal geheult. Wir erleben das als Dreierleitung und sind alle zusammen schon aus dem Saal gestürmt, weil wir nicht mehr konnten, um im Büro das Fenster aufzureißen und einen Song zu singen, den wir schmerzhaft auf die Aachener Straße brüllten – „One“ von U2, der uns ganz gut beschreibt: „Is it getting better / Or do you feel the same / Will it make it easier on you now / You got someone to blame (…) We‘re one but we‘re not the same / We got to carry each other, carry each other / We are one but not the same / Well, we hurt each other / Then we do it again (...)“

Interview: Thomas Dahl

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