Ein weiterer Höhepunkt des diesjährigen Festivals der Multipolarkultur ist die interaktive und integrative „Drugland“-Tour. „Drugland“ klingt wie eine futuristische Büroszene, in der Mitarbeiter nette Wohlfühldrogen gesponsert bekommen. In der Realität aber sind dies echte Krisenherde in der Kölner Innenstadt rund um den Neumarkt. Orte, inmitten von Konsumtempeln, an denen wir alle schon einmal vorbeigegangen sind. Menschen, die wir ignoriert haben. Ganz nah dran am Geschehen. Mit realen Süchtigen, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen, weil sie nun mal abhängig sind, aber hier auf der Bühne und bei dem dreistündigen Rundgang dennoch eine erstaunliche Performance hinlegen.
Eindrucksvoll und sensibel gelingt es dabei Regisseur Stefan Herrmann, der bereits mehrfach Projekte mit echten „Alltagsexperten“, wie er sie nennt, realisierte, Einblicke in die sehr persönlichen Geschichten der einzelnen Betroffenen zu erhalten und über das Thema „Drogen im öffentlichen Raum“ – ohne Blatt vor dem Mund – zu sprechen. Ohne dabei aber auch zu sehr auf die Tränendrüse zu drücken. Und damit den Versuch zu wagen, via eines künstlerischen Projektes im öffentlichen Raum Konflikte sichtbar und anfassbar zu machen und die Frage zu stellen: Wie kann man hier zusammenzuleben? Wer bestimmt die Regeln? Wer wird gesehen? Wer ignoriert?
„Spüren Sie den Druck in der Brust? Das pochende Herz? Die Angst zu ersticken? Sie brauchen jetzt den Atem wie der Süchtige den Stoff“, erklärt Osman, der einen eindringlichen Monolog im Innenhof des Gesundheitsamtes hält, in welchem der Roadtrip startet. 12 Jahre verbrachte der 39-Jährige, der ironischerweise mal mit einer Polizistin zusammen war, hinter Gittern. „Während sie tagsüber Junkies von der Platte schubste, sah sie mir nachts dabei zu, wie ich konsumierte“, erzählt Osman, während Tänzer Hayato eine ausdauernde Performance hinlegt. Und das obwohl er eine Familie und einen Beruf habe.
Der Besucher erfährt, wieso diese Menschen überhaupt in die Drogenszene gerieten, über Entzug, Kriminalität, Gefängnisaufenthalte, den Verlust von Menschen, die sie einmal mochten. All das nur wegen der Drogen. Die Geschichten der Einzelnen variieren aber stark. Während es solche gibt, die tatsächlich fähig sind, trotz Sucht einen Beruf auszuüben, teilweise sogar ein Kind großzuziehen, berichten andere von Aufenthalten in Psychiatrien, Krankenhäusern und Suizidversuchen.
Anschließend folgt ein Treppenhausgespräch der „Anwohner“ des Hotspots, das schließlich in einem Streit eskaliert, bevor eine Diskussion zwischen den beteiligten „Politikern“ mit der Frage entfacht: Komplettes Verbot von Drogen oder hilft stattdessen eher Legalisierung? Mit einem lustigen, mit russischem Akzent sprechenden „Arzt“ (Stanislav L.), der, wie alle anderen auch, drogensüchtig ist, aber hier und heute erstaunliches schauspielerisches Talent beweist. Das Kluge an dieser Inszenierung ist, dass das Thema „Drogen“ nicht verharmlost, aber auch niemals verteufelt wird, dass kein Schwarz-Weiß-Denken provoziert wird. Sondern, dass stattdessen viele, verschiedene Aspekte künstlerisch und kritisch beleuchtet werden.
Gefolgt von den berührenden Geschichten zweier Süchtiger im Rautenstrauch-Joest-Museum, die uns via Kopfhörern von der Empore in weiter Entfernung herab nach unten nah ins Ohr geflüstert werden. Etwa über Psychiatrie- oder Krankenhausaufenthalte, um danach mittels eines begehbaren „Drogentrips“ à la Drogen-to-go die Wirkung von jenen nachzuempfinden.
Und schließlich einer sehr beeindruckenden Tanzeinlage inmitten der U-Bahnstation, die von den Mitwirkenden viel körperliche Kraft abverlangt, und die so berührt, dass manch vorbeilaufender Passant ob der so noch nie gesehenen Szene verwundert und lächelnd stehenbleibt. Und der KVB-Beamte, statt wie üblich für Ordnung zu sorgen oder Tickets zu kontrollieren, sogar ein zweites Mal seinen Dienst antritt, so süchtig ist er offenbar nach dem sozialrealen Stück. Zwar bekommen die Darsteller teilweise Substitute, um in dieser Zeit nicht zu sehr unter Entzug zu leiden, und sind überall Sozialarbeiter sowie psychologische und medizinische Betreuer anwesend – dennoch ist es sehr beeindruckend, wie „normal“ diese angeblich abnormalen Menschen, die oft von unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden, wirken und agieren. Keiner dreht durch. Niemand bricht zusammen. Von dieser Konstitution können sich „Normalbürger“ durchaus eine Scheibe abschneiden.
Zum Schluss bekommen die Besucher die Möglichkeit, direkte Gespräche mit einzelnen Abhängigen in kleinen Gruppen zu führen. Ich lausche einem Süchtigen, der sich der Kunst als Ventil zugewandt hat und von mehreren Suizidversuchen erzählt. Der aber nichtsdestotrotz die Kraft besitzt, bei diesem Stück mitzuspielen und mit uns zu reden. Und das ist es: Dass es gelungen ist, trotz Härte des Themas nicht in kitschigem Mitleid zu baden und Drogen(sucht) nicht als etwas ganz Abartiges abzustempeln, sondern es stattdessen sichtbar werden zu lassen.
Mehr in Kürze: „Antikörper“ in der JVA Köln & „Fucking Disabled“ in der Orangerie
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