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Rolf Emmerich und Anna-Mareen Henke
Foto: Rolf Emmerich(l.) / Foto: Mario Frank(r.)

Angst als kreativer Faktor

25. April 2023

Das Sommerblut Kulturfestival 2023 beschäftigt sich mit Angst – Premiere 05/23

„Der Mensch besteht zu 65 bis 70 Prozent aus Wasser. Der Rest ist Angst“, schreibt die Schriftstellerin Thea Dorn. Willkommen in einer Gegenwart zwischen Klimakrise, Ukraine-Krieg, Pandemien, Fluchtbewegungen. Kollektive Ängste sind seit Jahrhunderten die Spielfelder politischer und religiöser Machtansprüche – samt Angeboten vermeintlicher Sicherheiten. Dazu kommt die Angst als anthropologische Konstante zwischen realer und pathologischer Ausformung. Was könnte also für das Sommerblut-Kulturfestival 2023 aktueller sein, als sich mit dem angstschlotternden Menschen auseinanderzusetzen. Ein Gespräch mit Rolf Emmerich und Anna-Mareen Henke.

choices: Angst ist das große Thema des Sommerblut-Kulturfestivals 2023. Kann man sagen, dass wir eigentlich im Moment in Zeiten leben, in denen die Angst Konjunktur hat wie lange nicht?

Anna-Mareen Henke: Daraus ist das Thema von Sommerblut entstanden. Wir waren und sind mit individuellen und auch gesamtgesellschaftlichen Ängsten konfrontiert, wie der Pandemie, dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine oder auch der Energiekrise. So ganz neu ist das nicht, es gab auch schon vor zehn Jahren große gesamtgesellschaftliche Ängste. Wir wollten diesmal das Thema individueller fassen, also als Berührungsängste und persönliche Ängste, die ja sehr häufig zu Ausschluss und Rassismus führen.

Rolf Emmerich: Wir wollen die Menschen mit dem Thema aber nicht in die Verzweiflung treiben, sondern ihnen Mut machen, sich den Ängsten zu stellen und Alternativen zu suchen, um aus der Angst rauszukommen –Angst also als kreativen Faktor zu verstehen.

Angst ist eine anthropologische Konstante. Sie begleitet uns im Guten wie im Schlechten. Ohne Angst wären wir heute nicht da, wo wir sind. Aber wir können unterschiedlich mit ihr umgehen. Eine der Ur-Ängste des Menschen ist vermutlich die Angst vor dem Tod. Wie kann man sich dieser Angst stellen?

AH: Wir zeigen ein viertägiges Event in der Tanzfaktur, das sich mit Berührungsängsten auseinandersetzt, also die Angst vor dem Unbekannten, vor dem Fremden. Tod und Sterben sind in unserer Gesellschaft ja immer noch Tabu-Themen. Im Rahmen dieses Events werden wir beispielsweise die Produktion der Gruppe BKM Performance zeigen, die ganz konkret das Thema Bestattung behandelt. Da geht es um zwei Bestatterinnen, die in aller Deutlichkeit die Drastik, aber auch die Skurrilität ihres Arbeitsalltags beschreiben.

Hat sich durch die Pandemie der Umgang mit dem Tod verändert?

RE: Die Art, wie wir während der Pandemie mit dem Tod umgegangen sind, war nicht wirklich gut. Das hat, glaube ich, jeder in seinem eigenen Umfeld erlebt. Ich weiß von einer Freundin, die sich nicht persönlich von ihrer Mutter verabschieden konnte. Abschied nehmen ist aber ein ganz wichtiger Teil beim Sterben.

AH: Es war auch spannend, wie die Medien das während der Pandemie kommuniziert haben. 

Wenn man über den Tod spricht, dann ist in der Regel die Religion nicht weit. Religion schürt einerseits die Angst vor dem Gnadenentzug Gottes, andererseits verspricht sie uns eine angstfreie Erlösung. Sie zeigen relativ viele Produktion zur Religion im engeren und weiteren Sinn im Festival.

RE: Wir machen zum dritten Mal das Festival der Religionen mit Performances, Lesungen, Gesprächsformaten, das von Anja Fahlenkamp kuratiert wird. Als Themenschwerpunkt haben wir den Künstlern diesmal genau dieses Spannungsfeld zwischen Angst und Religion mitgegeben. Das Festival der Religionen findet am 14. Mai statt. Einen Tag zuvor wird die Produktion „Radio Mariia“ zu sehen sein, die sich mit der katholischen Religion in Polen auseinandersetzt. Sie stellt auf satirische Weise die Frage, ob und wie die Zukunft des Landes ohne Religion vorstellbar wäre. Inzwischen gehen in Polen weniger Menschen in die Kirche, doch an ihr führt kein Weg vorbei.

Ein zentrales Anliegen der christlichen Religion ist umgekehrt aber auch die Liebe. Und zwar ausgerechnet die Liebe zum Fremden jenseits meines Kollektivs. Wäre das ein Mittel gegen die Angst: It’s „All about love“, wie eine Produktion überschrieben ist?

RE: Begegnung und Liebe sind auch ein Gegenpol zu Angst und Tod. Liebe muss immer vorhanden sein, um Menschen in Begegnung zu bringen - sonst könnte ich auch dieses Festival gar nicht machen. Ich glaube, dass aus der Angst auch Liebe entsteht. Die Angst, in die Beziehung zu gehen, die Angst, Nähe zuzulassen, hat immer auch damit zu tun, dass man sich letztlich nach Liebe sehnt.

AH: Die Liebe ist gesellschaftlich zum großen Thema geworden: Die Angst vor der festen Beziehung, die Angst vor der Liebe, Stichwort: Singlegesellschaft und Einsamkeit. In dem Stück „All about love“ wird es genau um diese Begegnungen gehen, um die Angst vor dem ersten Date, die Angst, nicht gut auszusehen.

RE: Das Thema ist von den Machern und vor allem den Jugendlichen, die ja gerade während der Pandemie ungeheuer gelitten haben, vorgeschlagen worden. Das war ein ganz starkes Bedürfnis.

Zu den Begegnungen, vor denen viele Menschen Angst haben und die große Unsicherheit hervorrufen, gehört die Begegnung mit Menschen mit Behinderung. Sie haben die beiden Choreographen und Tänzer Dalibor Šandor und Michael Turinski eingeladen.

AH: Manchmal sind es nur die kleinen und persönlichen Unsicherheiten, zum Beispiel zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen, die Begegnungen gar nicht erst stattfinden lassen. Wie verhalte ich mich mit einer tauben Person? Wie verhalte ich mich mit jemandem, der mich nicht sehen kann? Da gibt es so viele Unsicherheiten, dass man oft lieber gar nicht erst in diesen Kontakt geht. Dalibor Sandor reflektiert in seiner Lecture-Performance „on something very special“ über die Situation von Menschen mit Behinderung und er versucht, diese Berührungsängste aufzuheben. Zusammen mit Leisa Prowd und Michael Turinski wird er dann das Thema in einem Gespräch nochmal vertiefen.

Das Wort „Angst“ bedeutet ursprünglich „eng“. Wir kennen das heute noch, wenn einem die Kehle eng wird usw. Wenn wir ängstlich werden, verengen sich Raum- und Zeit-Gefühl, wir sehen kaum etwas anders mehr. Eine zentrale Erfahrung, die beispielsweise suchtkranke Menschen machen.

AH: Das Wort „eng“ beschreibt es sehr gut. Das ist genau der Gedanke, dass man seine Komfortzone verlässt, persönliche Grenzen überschreitet, in dem man in unbekannte Lebensgeschichten und Lebenswelten eintaucht. Das Stück „Cola Lemon 30 Cent“ setzt sich mit dem Kosmos Spielsucht und Spielotheken auseinander. Spielotheken gibt es hier an jeder Ecke, trotzdem wissen wir kaum, was hinter den Fassaden vor sich geht.

RE: Spielsucht wird kaum kommuniziert. Wir sind bei unseren Recherchen dabei völlig überraschend auch auf Menschen in unserem Umfeld gestoßen, von denen wir das nie gedacht hätten. Ich habe häufig erlebt, dass Menschen mit einer stofflichen Sucht, also Drogen oder Alkohol, auf einen zukommen. Aber Spielsucht, von der in Deutschland 1,6 Mio. Menschen betroffen sind, ist offensichtlich ein unglaubliches Angstthema.

AH: Durch die Digitalisierung ist die Dunkelziffer sowieso schon gigantisch und hat sich vermutlich in der Pandemie nochmal potenziert.

Wir sprechen eigentlich die ganze Zeit darüber, in welchen Situationen man Angst hat und wie sie sich auswirkt. Was ist denn mit dem Empowerment?

AH: Das ist das große Ziel. Unser Motto lautet ja „Geh dahin, wo die Angst ist!“ Es geht ganz konkret um Empowerment und sich den Ängsten zu stellen. 

Angst produziert die Sehnsucht nach Sicherheit. Und das Versprechen von Sicherheit gehört seit Jahrhunderten zum Standardangebot politischer Macht. Während der Pandemie konnte man der Politik ja wie in einer Live-Performance bei der alltäglichen und hilflosen Produktion von Sicherheit zusehen. Das reflektiert die Produktion „Behind fear“ von Dragana Bulut.

AH: Dragana Bulut geht in ihrer Produktion spielerisch mit unserem Bedürfnis nach Sicherheit um. Zu Beginn schickt sie das Publikum durch verschiedene Sicherheitschecks. Da muss man durch einen Metalldetektor wie am Flughafen oder im Gefängnis. „Behind fear“ fragt, ob wir vielleicht auch ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis haben, dass wir immer super safe sein wollen – obwohl gerade wir hier in Deutschland sehr behütet leben. Und je größer das Sicherheitsbedürfnis, desto größer dann auch wieder die Ängste. Und das ist etwas, was wirklich jeden und jede auf unterschiedlichen Ebenen betrifft.

Sommerblut Kulturfestival 2023 | 6 - 24.5. | Diverse Orte in Köln | 0221 29 49 91 34

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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