Das Stück von Roland Schimmelpfennig handelt von Ödipus‘ Vater aus dem bekannten griechischen Mythos.
choices: Frau Thomas, Herr Dreher, eine mögliche Übersetzung von „Ödipus“ lautet „Schwellfuß“ und bezieht sich auf die lädierten Gliedmaßen des einst von seinen Eltern ausgesetzten Babys. Der spätere Mörder seines Vaters ist zunächst ein Opfer. Was empfinden Sie für den Charakter?
Hans Dreher (HD): Ich glaube, die Absicht von Schimmelpfennigs Text ist, dass man auch mit dieser Figur, die ihrem Schicksal nicht entkommen kann, leidet. Ödipus ist ein hochinteressanter Charakter. Er ist ein armes Schwein, aber auch ein schlimmer Täter.
Laura Thomas (LT): Ich empfinde die Figur als ambivalent. Sie tut mir leid, aber dann denke ich: woahh. Ja, woahh. Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden.
Sollte Ödipus rehabilitiert werden?
HD: Auf jeden Fall.
LT: Ja, denn man hat nicht richtig im Kopf, was hier eigentlich passiert ist.
Herr Dreher, warum haben Sie sich für Laura Thomas als Schauspielerin entschieden?
HD: Seit wir uns in Bochum beruflich kennengelernt haben, hege ich den Traum, mit Laura einen Solo-Abend zu machen. Als ich die Übertragung der „Laios“-Uraufführung in der Inszenierung von Karin Beier mit Lina Beckmann bei den Berliner Theatertreffen sah, dachte ich mir: „Ja, das ist das Stück!“
Sie übernehmen die Inszenierung am Bochumer Prinz Regent Theater für das Theater im Bauturm. Gibt es dennoch Unterschiede?
HD: Viele, alleine schon auf architektonischer Ebene. Das Prinz Regent Theater ist eine „Black Box“, das heißt, die erste Reihe ist ebenerdig mit dem Spielrand und wir haben eine Deckenhöhe von acht Metern. Dies auf eine Guckkastenbühne wie im Bauturm zu übertragen, wird interessant.
Wir kennen Ödipus. Was sind Laios, seine Frau Iokaste und sein Geliebter Chrysippos für Menschen?
HD: Laios arbeitet intensiv mit Anachronismen und Modernismen. Der junge Laios ist ein Thronfolger, der in einem Pferdekaff im Exil sitzt. Dort lernt er Chrysippos kennen. Die beiden beginnen eine Affäre. Als Laios die „slicke“, gewiefte Städterin Iokaste kennenlernt, ist er so fasziniert von ihrem einnehmenden Wesen, dass er sich sofort in sie verliebt und Chrysippos vernachlässigt.
Wie würde Chrysippos heute auf seinem Instagram- oder TikTok-Profil auftreten?
HD: Diese Frage ist besonders schwer zu beantworten, denn das Stück zeigt uns zwei Parallelversionen von Chrysippos: In einer ist er ein junger Erwachsener, der aus freien Stücken mit Laios zusammenkommt.
LT: In einer anderen Version wird er als 8- oder 9-jähriges Kind von Laios entführt. Das ist erschütternd. Beide Varianten werden erzählt.
Angesichts zahlreicher antiker Dramen, in denen es zu gleichgeschlechtlicher Liebe kommt: War die damalige Gesellschaft offener für Diversität?
HD: Das Stück spielt in einer sehr queerfeindlichen Umgebung. Nicht nur auf dem Land würden Laios und Chrysippos dafür bestraft, auch in der Stadt ist es ein Skandal, wenn sie sich in der Öffentlichkeit küssen.
Warum sollte man eine opulente antike Tragödie inklusive Chor als Monolog in einer One-Women-Show inszenieren?
LT: Warum nicht? Das war für mich eine wahnsinnige Herausforderung. Ich habe zunächst daran gezweifelt. Im Nachhinein bin ich saufroh, dass ich es gemacht habe. Es ist wie beim Surfen – die richtige Welle zu erwischen und zu durchreiten.
HD: Weil es eben geht. Die Reduktion von Mitteln macht oft kreativ. Ich liebe es, wenn eine Person mehrere Rollen spielt, weil dadurch eine unglaubliche Bandbreite von schauspielerischem Können gezeigt werden kann. Es entsteht im Idealfall eine Energie, die mehr ist als die Summe der Einzelteile.
Welche Rolle spielt die Musik im Stück?
LT: Mir war superwichtig, dass es atmosphärisch bleibt. Dafür haben wir mit Max Kotzmann einen sehr guten Musiker an der Hand gehabt, um die einzelnen Stellen zu untermalen. Ich wollte nicht, dass mich bekannte Songs aus der Geschichte herausholen.
HD: Ich habe da eine diametrale Herangehensweise: Ich liebe es, meine Lieblingssongs auf der Bühne einzusetzen. Aber die Arbeit mit Max war wunderbar und wesentlich zielführender als bekannte Lieder zu verwenden.
Mit Antigone, Ismene und Kreon werden zukünftige tragische Gestalten aus dem Familienstammbaum von Ödipus, Laios und Iokaste eingewoben. Wie verhindern Sie, dass das Leid der Figuren als inflationär wahrgenommen wird?
LT: Ich beschreibe äußerst grausame Dinge im Stück. Es ist verrückt, wie unterschiedlich die Menschen darauf reagieren. In der Kölner Theaternacht musste eine Frau im Publikum während des Zu-Tode-Schleifens von Dirke, der Frau von Lykos, der mal stellvertretender Herrscher von Theben war, lachen. Sie war so überfordert von den Gewaltszenen, dass sie nicht anders konnte. Man sieht aber auch sehr viele betroffene Gesichter. Ich glaube nicht, dass dieser Abend den Besucher:innen gleichgültig bleibt. Wir stellen das so dar, dass man nicht erschrecken muss. Es sind nicht die blutigen Bilder, sondern die Empathien der Zuschauer:innen, die das Stück mitprägen.
HD: Nichts ist so gut darin, Gefühle hervorzulocken wie das Theater.
Ist in diesem Stau-Raum von Ängsten, Intrigen und Morden noch Platz für Liebe?
HD: Ich würde sagen, es ist wahnsinnig interessant, beim Scheitern der Liebe zuzuschauen. Alles läuft auf eine unausweichliche Tragödie hin. Das Scheitern der Figuren ist zutiefst menschlich und eine der tragenden emotionalen Säulen des Abends.
Der Ödipus-Mythos handelt mitunter von Sexualität – ein typischer Anlass für Empörung. Was war der bisher krasseste Vorwurf, den Sie für die Inszenierungen in Bochum erhalten haben?
HD: Allgemein ist Theaterpublikum ziemlich erfahren, was Mord- und Totschlag oder den Umgang mit queeren Motiven betrifft. Das findet sich in jedem Shakespeare. Ich glaube, dass das Publikum eine reflektierte Lust an dieser Abgründigkeit hat. Bisher wurden wir in Bezug auf das Stück nicht mit Kritik konfrontiert.
Wie erreichen Sie mit einem 2.450 Jahre alten Klassiker im 21. Jahrhundert noch neue Theaterbesucher:innen?
HD: In Bochum vor allem durch Mundpropaganda. Theateraffine Menschen bringen ihre nicht so theateraffinen Freunde mit. Ich glaube, am Theater im Bauturm, in diesem wunderschönen Szenenviertel, wird es ähnlich sein. Natürlich vertraue ich dabei einfach auch auf die Qualität unserer Arbeit.
Nehmen wir an, Ödipus und Laios begegnen sich nicht an der Weggabelung. Es kommt nicht zum Streit um die Vorfahrt – und Ödipus tötet Laios nicht. Wie würde die Geschichte weitergehen? Entwerfen Sie einen positiven, aber ernsthaften Gegenentwurf.
HD: Eine positive Version kann ich mir nicht vorstellen. Ich muss sofort an die ziemlich trashige Horror-Filmreihe „Final Destination“ denken. Es hätte sonst vielleicht an der Weggabelung eine Massenkarambolage gegeben, mit vielen weiteren Opfern. Man kann die Unausweichlichkeit des Schicksals nicht aus der Geschichte heraussaugen. Das Happy End ist hier nicht vorstellbar. Dieses Leben, beispielsweise die zerrüttete Ehe von Laios und Iokaste bis 70 oder 80 zu Ende zu denken, wäre auch nicht positiv. Es wäre einfach ein beschissen-trüber Alltag. Gut, dass es anders kommt.
Laios | 7. (Köln-Premiere), 8., 21., 22., 29., 30.11., 31.12. | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
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