Die Pietät trägt Filzpuschen. Jeder Besucher, der die Wohnung des Verstorbenen betritt, bekommt ein paar Überschuhe. So wie man das aus Schlössern und fürstlichen Wohngemächern kennt. Das neue Projekt der Gruppe Futur3 widmet sich dem anonymen Sterben. Das Team um die Regisseure André Erlen und Stefan H. Kraft hat die Hinterlassenschaft eines kürzlich Verstorbenen, der keine Erben hatte, übernommen und macht sich Gedanken über Leben und Tod in der Großstadt.
Mehr als zwölf Besucher sind nicht zugelassen, die nach einiger Wartezeit im Flur von zwei grau Uniformierten (Tomasso Tessitori und Stefan H. Kraft) auf die Wohnküche und das Arbeits-Schlafzimmer verteilt werden. Wärter? Beamte? Inspizienten? Geschlechtslose Berichterstatter? Die Wohnküche ist ein Konglomerat aus modernen Küchenmöbeln samt Dunstabzugshaube und Sofagarnitur aus schwarzem Leder vor weißer Schleiflack-Schrankwand. Dämmerlicht und Schweigen beherrschen die Szenerie. Tomasso Tessitori öffnet schweigend Schubladen, steht rauchend am Fenster, besieht sich die Schallplatten – geronnene Gesten, herausgeschnitten aus dem Lauf der Zeit, vielleicht einer Fotografie entnommen. Eine Stimme tönt aus dem Schrank, macht eine Bestandsaufnahme der Hinterlassenschaft, zitiert aus Notizen oder Tagebuchaufzeichnungen und geht in einen Dialog der beiden Wärter über: über die erste Italienreise des verstorbenen 1965, seine Tennisleidenschaft, seine Vorliebe für Tanzen, Alkohol und Sex – sowie seine letzten Stunden. Der Mann hat sich scheiden lassen, er hat gegen seinen Bruder prozessiert, soviel erfährt man. War ein Einzelgänger oder ein Kotzbrocken, wie es einmal heißt?
Es sind Rudimente von Vorlieben, aus denen sich die Ahnung einer Persönlichkeit ergeben soll, die aber im Kern doch kaum mehr als Mosaiksteine bleiben. Es fehlt ein Bild des Mannes, mit dem man diese Züge verbinden könnte – das man andererseits aber auch zu Recht nicht zu sehen bekommt. Es war ein anonymer Tod. Das Duo stellt Mutmaßungen über die letzten Stunden an. Fantasieren sich in ein Verlangsamen der Zeit, das Rauschen des Blutes und das schnelle Schlagen des Herzens hinein. Dann tauschen die beiden Gruppen die Zimmer; man landet im Sterbezimmer, sitzt auf dem Bett, in dem der Tod den Unbekannten ereilt haben könnte. Ein Spiegel wird dem Besucher vorgehalten und dann verschwinden die Möbel unter schwarzen Tüchern, eine Stimme referiert die Aktennotiz des Sozialamtes: „Gewöhnlicher Haushalt. Verschrottung empfohlen“. Ein Leben ist vorbei.
Das Bild des Toten, das uns zunächst vorenthalten wurde, taucht dann im zweiten Teil auf. Im Bestattungshaus Kuckelkorn steht am Kopfende eines Kiefernsargs ein vergilbtes Foto eines jungen Mannes aus den 1930 oder 40er Jahren. Kann das der Mann sein, der doch erst 1930 geboren ist? Die Trauerfeier findet unter der vermeintlich spontanen Regie einer Schulklasse des Gymnasiums Kreuzgasse statt. Sie lassen die Besucher Bemerkungen auf Zetteln über nachbarschaftliche Vorurteile notieren, über das Bedauern oder das Glück, sich nie kennengelernt zu haben. Demokratisch wird über die Art der Trauerfeier abgestimmt: Eine weltliche soll es sein, die dann mit „Highway to Hell“ einsetzt. Aus einem von drei Koffern werden ein Tennisschläger und andere Relikte aus dem Besitz des Mannes entnommen und auf dem Sarg drapiert. Der Abend nimmt die Form einer basisdemokratischen, selbst organisierten Trauerfeier an, und das geht gründlich schief. Das Engagement der Schüler wirkt zu kalkuliert; die Erwachsenen wiederum sind offenbar zu einer gespielten Pietät nicht in der Lage: Man debattiert, unterhält sich, drückt plötzlich eine andere Reihenfolge beim Verlesen von Texten durch. Riten – das wird an diesem Abend deutlich – sind nicht ohne weiteres demokratisierbar und sie formieren sich nicht spontan und partizipativ. Die emotional packende Dichte des ersten Teils dieses „Nachbar“-Projektes franst im zweiten leider aus. Der dritte und letzte widmet sich einer Vergegenwärtigung des Jenseits.
„Der unbekannte Nachbar. Teil 3: Das Kabinett des Jenseits“ | R: André Erlen/ Stefan H. Kraft | Futur3 | 24.-26.2. 20 Uhr | Haus Licht, Lichtstraße, K.-Ehrenfeld | 0221 985 45 30
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nicht politisch
„1934 – Stimmen“ von Futur3 fragt, wie Menschen sich radikalisieren – Auftritt 10/20
Klagen über Klagen
Futur3 mit „Eine Stadt klagt sich an“ im Pfarrsaal von St. Michael – Bühne 02/19
Dystopia im Stillen Ozean
„Shit Island“ von Futur3 in der Orangerie – Auftritt 12/17
„Alle Orte haben ihre Unschuld verloren“
„Shit Island“ von Futur3 über das Schicksal der Insel Nauru – Premiere 11/17
Supermarkt der letzten Fragen
Futur3 und sein Theater-Essay über „Nichts“ – Theater am Rhein 01/17
Apfel der Erkenntnis
„Soft Core“ von Futur3 – Theater am Rhein 06/16
„Wir wissen wenig über das Sterben“
Futur3 widmet sich in der Trilogie „Der unbekannte Nachbar“ dem anonymen Tod – Premiere 02/16
Friendly Fire
Ein deutsch-französisches „Chambre d'amis“ – Theater am Rhein 01/15
Ins Theater-Paradies
Nominierungen der 25. Tanz- und Theaterpreise – Bühne 11/14
Wir sind alle verantwortlich für die Polis
Ein Gespräch mit André Erlen von Futur3 über das Projekt „Zum Goldenen Leben“ – Premiere 07/14
Warm-up fürs Leben
„Von Genen und anderen Zufällen“ von Futur3 – Theater am Rhein 02/13
„Man muss viele Dinge einfach überleben“
André Erlen über das neue Stück der Theatergruppe Futur3 – Premiere 01/13
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Freude und Bedrückung
35. Vergabe der Kölner Tanz- und Theaterpreise in der SK Stiftung Kultur – Bühne 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
„Andere Realitäten schaffen“
Dramaturg Tim Mrosek über „Kaputt“ am Comedia Theater – Premiere 12/24
Lang lebe das Nichts
„Der König stirbt“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/24
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24