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Der Inspizient des anonymen Todes
Foto: Meyer Originals

Highway to Hell

23. Februar 2016

Futur3 untersucht mit „Der unbekannte Nachbar“ das anonyme Sterben in der Großstadt – Auftritt 03/16

Die Pietät trägt Filzpuschen. Jeder Besucher, der die Wohnung des Verstorbenen betritt, bekommt ein paar Überschuhe. So wie man das aus Schlössern und fürstlichen Wohngemächern kennt. Das neue Projekt der Gruppe Futur3 widmet sich dem anonymen Sterben. Das Team um die Regisseure André Erlen und Stefan H. Kraft hat die Hinterlassenschaft eines kürzlich Verstorbenen, der keine Erben hatte, übernommen und macht sich Gedanken über Leben und Tod in der Großstadt.

Mehr als zwölf Besucher sind nicht zugelassen, die nach einiger Wartezeit im Flur von zwei grau Uniformierten (Tomasso Tessitori und Stefan H. Kraft) auf die Wohnküche und das Arbeits-Schlafzimmer verteilt werden. Wärter? Beamte? Inspizienten? Geschlechtslose Berichterstatter? Die Wohnküche ist ein Konglomerat aus modernen Küchenmöbeln samt Dunstabzugshaube und Sofagarnitur aus schwarzem Leder vor weißer Schleiflack-Schrankwand. Dämmerlicht und Schweigen beherrschen die Szenerie. Tomasso Tessitori öffnet schweigend Schubladen, steht rauchend am Fenster, besieht sich die Schallplatten – geronnene Gesten, herausgeschnitten aus dem Lauf der Zeit, vielleicht einer Fotografie entnommen. Eine Stimme tönt aus dem Schrank, macht eine Bestandsaufnahme der Hinterlassenschaft, zitiert aus Notizen oder Tagebuchaufzeichnungen und geht in einen Dialog der beiden Wärter über: über die erste Italienreise des verstorbenen 1965, seine Tennisleidenschaft, seine Vorliebe für Tanzen, Alkohol und Sex – sowie seine letzten Stunden. Der Mann hat sich scheiden lassen, er hat gegen seinen Bruder prozessiert, soviel erfährt man. War ein Einzelgänger oder ein Kotzbrocken, wie es einmal heißt?

Es sind Rudimente von Vorlieben, aus denen sich die Ahnung einer Persönlichkeit ergeben soll, die aber im Kern doch kaum mehr als Mosaiksteine bleiben. Es fehlt ein Bild des Mannes, mit dem man diese Züge verbinden könnte – das man andererseits aber auch zu Recht nicht zu sehen bekommt. Es war ein anonymer Tod. Das Duo stellt Mutmaßungen über die letzten Stunden an. Fantasieren sich in ein Verlangsamen der Zeit, das Rauschen des Blutes und das schnelle Schlagen des Herzens hinein. Dann tauschen die beiden Gruppen die Zimmer; man landet im Sterbezimmer, sitzt auf dem Bett, in dem der Tod den Unbekannten ereilt haben könnte. Ein Spiegel wird dem Besucher vorgehalten und dann verschwinden die Möbel unter schwarzen Tüchern, eine Stimme referiert die Aktennotiz des Sozialamtes: „Gewöhnlicher Haushalt. Verschrottung empfohlen“. Ein Leben ist vorbei.

Das Bild des Toten, das uns zunächst vorenthalten wurde, taucht dann im zweiten Teil auf. Im Bestattungshaus Kuckelkorn steht am Kopfende eines Kiefernsargs ein vergilbtes Foto eines jungen Mannes aus den 1930 oder 40er Jahren. Kann das der Mann sein, der doch erst 1930 geboren ist? Die Trauerfeier findet unter der vermeintlich spontanen Regie einer Schulklasse des Gymnasiums Kreuzgasse statt. Sie lassen die Besucher Bemerkungen auf Zetteln über nachbarschaftliche Vorurteile notieren, über das Bedauern oder das Glück, sich nie kennengelernt zu haben. Demokratisch wird über die Art der Trauerfeier abgestimmt: Eine weltliche soll es sein, die dann mit „Highway to Hell“ einsetzt. Aus einem von drei Koffern werden ein Tennisschläger und andere Relikte aus dem Besitz des Mannes entnommen und auf dem Sarg drapiert. Der Abend nimmt die Form einer basisdemokratischen, selbst organisierten Trauerfeier an, und das geht gründlich schief. Das Engagement der Schüler wirkt zu kalkuliert; die Erwachsenen wiederum sind offenbar zu einer gespielten Pietät nicht in der Lage: Man debattiert, unterhält sich, drückt plötzlich eine andere Reihenfolge beim Verlesen von Texten durch. Riten – das wird an diesem Abend deutlich – sind nicht ohne weiteres demokratisierbar und sie formieren sich nicht spontan und partizipativ. Die emotional packende Dichte des ersten Teils dieses „Nachbar“-Projektes franst im zweiten leider aus. Der dritte und letzte widmet sich einer Vergegenwärtigung des Jenseits.

„Der unbekannte Nachbar. Teil 3: Das Kabinett des Jenseits“ | R: André Erlen/ Stefan H. Kraft | Futur3 | 24.-26.2. 20 Uhr | Haus Licht, Lichtstraße, K.-Ehrenfeld | 0221 985 45 30

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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