Mit „Von Genen und anderen Zufällen“ macht die Gruppe Futur3 ein Stück über Lebenspläne und warum sie schief gehen können, das sich an Erwachsene und Jugendliche wendet.
choices: Herr Erlen, das neue Stück von Futur3 heißt „Von Genen und anderen Zufällen“ und trägt den Untertitel: „Ein Jugendstück für Erwachsene“. Wie kam es dazu, erstmals etwas für Jugendliche zu machen?
André Erlen: Angefangen hat alles damit, dass einem Kollegen, der auf die 50 zugeht, das Leben in Scherben zerbrochen ist. Das war eine schwere Katastrophe. Ich habe mich damals gefragt, wieso unser Leben so verläuft, wie es verläuft. Bin ich schuld? Wie viel Einfluss habe ich darauf? Inwieweit sind wir determiniert? Welche Erklärungsmuster und –modelle haben wir, um unsere Lebenswege darzustellen. Stefan Kraft sagte dann, das müssten wir für Jugendlichen machen. Wir seien alle in die Welt gestartet mit Träumen und Plänen und genau das sei der Start um erzählen zu können, was aus uns schließlich geworden ist. Das könnte sowohl für Heranwachsende wie auch für Erwachsene interessant sein.
Wie war das bei Ihnen persönlich?
Eine Zeitlang habe ich mich nur für Sport interessiert, bis ich mit 16 von einem Tag auf den anderen mit dem Leistungssport aufhörte. Das ganze Konkurrenzstreben war mir auf einmal zuwider. Ich bin dann in der Theater-AG gelandet und habe begonnen zu malen. Die Kunst erschien mir als Rettung aus der Welt der Eltern. Ich wollte keinen der vorgelebten Wege beschreiten und die Kunstakademie war für mich der einzige Ort, an dem ich genug Freiheit hätte. Das große romantische Bild, wonach Leben und Kunst eins sind, wurde dann aber von mir selbst torpediert. Weil ich Angst hatte, das auch konsequent und radikal zu leben – das habe ich mir damals aber nicht eingestanden.
Ist der Kompromiss nicht auch ein Zeichen des Erwachsenwerdens und der Selbsterkenntnis?
Die Frage des Stücks ist auch: Was ist ein gelungenes Leben? Wir haben einerseits alle Chancen und auch die Verpflichtung, daraus etwas zu machen. Andererseits leben wir mit vielen Vorprägungen wie dem Erbgut oder sozialen Determinanten. Dann kommt irgendwann die Frage: Wäre es nicht richtig gewesen, alles auf eine Karte zu setzen und mit 27 Jahren zu verglühen. Wenn man dann die 27 überlebt hat, braucht man das Werkzeug, um sagen zu können, das war richtig so. Aber es bleibt ein bitterer Geschmack.
Dienen die Gene dann nicht doch eher als Entschuldigung für ein misslungenes Leben?
Das Erbgut ist eine Schatzkammer, von der wir noch gar nicht genau wissen, was darin steckt. Ich habe mich viel mit dem Stammbaum meiner Familie beschäftigt, ohne zu wissen warum. Meinen Vater hat das nie interessiert, obwohl er ein bewegtes Leben mit Flucht aus dem Osten hinter sich hatte. Aber das blieb immer das Geheimnis in unserer Familie. Ich habe dann viele Orte in Polen besucht. Es hatte mit mir und der Frage zu tun, wer ich bin. Es ging um meinen eigenen Familienmythos. Mittlerweile spielt das keine Rolle mehr. Es gibt einen Punkt, an dem man niemand anderes mehr zur Rechenschaft oder zur Verantwortung ziehen kann.
Ist das Bilanzziehen nicht auch Zeichen einer typischen männlichen Midlifecrisis?
Das klingt so, ist aber nicht so gemeint. Niemand von uns steckt in der Midlifecrisis. Ich bin eigentlich gerade an einem Punkt angekommen, an dem es sehr interessant ist zu überlegen, wie es jetzt weiter geht. Habe ich noch ein Ziel, eine langfristige Vision für mein Leben?
Was ist für Jugendliche interessant daran, Männern beim Bilanzziehen zuzusehen?
Leben verläuft in nicht vorsehbaren Bahnen. Man muss viele Dinge einfach überleben und durchhalten. Ich musste irgendwann erkennen, dass ich wahrscheinlich nicht der berühmteste Theatermacher Deutschlands werde. Das hat an mir genagt. Wir wollen den Wahn relativieren, erfolgreich sein zu müssen. Wichtig für die Jugendlichen ist auch das Signal, dass es heute genauso weitergeht. Wir sind zwar Eltern geworden, aber wir fragen uns auch heute noch, was wir mit dem Leben eigentlich anfangen sollen.
Das Stück scheint ein Neuanfang für Futur 3 zu sein: Erstmals treten Sie auf einer konventionellen Bühne auf, erstmals bearbeiten Sie kein gesellschaftlich brennendes Thema.
Für uns neu ist, dass wir uns selbst als Material nehmen. Es ist also kein Dokumentartheater im strengen Sinne. Wir haben beschlossen, unsere privaten Geschichten zu einer großen Geschichte für die Bühne zu machen. Nach den vielen gesellschaftlichen Themen geht es jetzt um das größte aller Themen, nämlich unser eigenes Leben. Haben wir genug zu erzählen, das für andere interessant sein könnte? Wenn nicht, soll man überhaupt weitermachen? Neu für uns ist auch die Form des Storytelling, des direkten Erzählens bei reduziertem szenischem Spiel. Es geht um die direkte Kommunikation mit den Zuschauern und den Versuch, das Private in einen größeren Kontext zu stellen. Es ist nicht nur die Frage, was jeder erzählt, sondern auch wie er es erzählt.
Wie individuell bleiben die Lebensläufe oder fügen sie sich zu einer Metageschichte?
Es gibt keine Lebensgeschichte, die ein Passepartout für alle Geschichten oder die eine Metapher sein könnte. Jeder entwickelt eine eigene Sprache, mit eigenem Rhythmus und eigener Wortwahl.Dadurch dass wir nebeneinander stehen, kann man nicht nur die Leben miteinander vergleichen, sondern auch die verschiedenen Erzählweisen. Man könnte auch alles ganz anders sehen. Der Zuschauer kann sich so auch die Frage stellen, wie er auf sein eigenes Leben schaut. Welche Muster, welche Erklärungsmodelle er im Kopf hat.
Wie austauschbar sind solche Erklärungsmodelle?
Die Erzählung über das Leben schafft das, was mein Leben angeblich war. Ich könnte mein Leben, aus einem ganz anderen Gesichtspunkt erzählen und es würde im Erzählen ganz neu entstehen. Man muss klarstellen, dass die Geschichte in meiner Erzählung eine andere hätte sein können, ohne dass sie dadurch falsch wäre.
Ist die Lebenserzählung, die selbst Katastrophen oft als sinnvoll ausgibt, nicht letztlich ein menschlicher Überlebenstrick?
Unbedingt. Ich finde das auch nicht falsch. Es ist überlebensnotwendig, dass wir alle Klippen zuschütten und die Abgründe mit Sinnzusammenhängen miteinander verbinden. Nur so konnte ich der werden, der ich jetzt bin.
„Von Genen und anderen Zufällen“ | Comedia | 7.(P), 9.-13.1. (20.30 Uhr), 8., 10.,14., 15.1. (11 Uhr) | 0221 888 77 222 | comedia-koeln.de
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