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Stefan H. Kraft in „Das Protokoll der letzten Stunden“
Foto: Thomas Morsch

„Wir wissen wenig über das Sterben“

28. Januar 2016

Futur3 widmet sich in der Trilogie „Der unbekannte Nachbar“ dem anonymen Tod – Premiere 02/16

In der Singlegesellschaft wird auch das Sterben einsam. Da können noch so viele Menschen vom Ableben im Kreis der Familie träumen – der anonyme Tod nimmt stetig zu und die Gesellschaft sucht nach Wegen, wie damit umzugehen ist. Die Gruppe Futur3 widmet sich in ihrer Trilogie „Der unbekannte Nachbar“ der Begegnung mit dem Tod in der Stadt. Mit Objekten aus dem Nachlass eines Unbekannten erzählt Futur3 im ersten Teil vom Sterben aus der Innenperspektive („Das Protokoll der letzten Stunden“); der zweite Teil („Das Totenfest“) spielt in einem Bestattungsunternehmen, in dem die Zuschauer zu Hinterbliebenen werden; der dritte führt schließlich geradewegs ins Jenseits („Das Kabinett des Jenseits“). Ein Gespräch mit Regisseur André Erlen.

choices: Herr Erlen, wie sind Sie auf die Wohnung eines anonym Verstorbenen gestoßen?
André Erlen: Wir hatten gehofft, eine Wohnung zu finden, in der ein Mensch ohne Angehörige gestorben ist. Die Recherche zeigte, dass die Realität anders aussieht. Menschen sterben zwar mehr und mehr alleine, doch das anonyme Sterben findet im Altersheim, in Krankenhäusern oder in Hospizen statt. Wir haben uns deshalb eines Kunstgriffs bedient. Durch die Vermittlung eines Betreuers konnten wir die Hinterlassenschaft eines Verstorbenen ohne Angehörige übernehmen. In der Wohnung konnten wir nicht bleiben, weil sie bereits weitervermietet war. Als Alternative bespielen wir jetzt eine frühere Modellwohnung für altersgerechtes Wohnen der GAG. Die Wohnung hat zwar nichts mit der 1960er-Jahre-Wohnung des Verstorbenen zu tun, es stellt sich eher eine Altersheim-Atmosphäre ein. Doch der Kontrast des Cleanen von Heute und der Möbel von damals bringt auch eine andere Sichtbarkeit. In dieser Wohnung in Sülz findet Teil eins von „Der unbekannte Nachbar“ statt.

Was war dieser unbekannte Nachbar für ein Mensch?

André Erlen
Foto: Thomas Morsch
André Erlen hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert, anschließend absolvierte er eine Schauspielausbildung am Actors’ Studio Pulheim und realisierte Produktionen mit dem polnischen Regisseur Michal Nocon. 2003 gründete er mit Stefan H. Kraft und Klaus Maria Zehe die Gruppe Futur3, die 2010 mit dem Kölner Theaterpreis für „Petersberg I“ ausgezeichnet wurde.

Wir haben herausbekommen, dass er wahrscheinlich an Demenz gelitten hat. Deshalb hatte er einen Betreuer. Gestorben ist er im Krankenhaus. Wir haben Hinweise auf eine Tochter und zu einer Exfrau gefunden, beide sind aber nicht mehr aufgetaucht. Seine Lebensgefährtin ist vor ihm gestorben. Er war vermutlich Vertreter und hat einen Versandhandel gehabt. Man merkt das an seinem sehr ordentlichen Arbeitsschrank. Er war unglaublich organisiert, hat seine Urlaubsreisen von A bis Z dokumentiert. Es hatte eine kleine Privatbar und eine genau beschriftete Sammlung mit Tanzmusik, als ob er ein DJ gewesen wäre. Wir haben Hinweise auf FKK-Urlaube und Zeichnungen von allen Kamasutra-Positionen gefunden, die hinter dem Bett lagen. Da war sehr viel Leben, sehr viel Energie in ihm drin, auch wenn die Wohnung eher muffig wirkte und die Objekte lange nicht mehr benutzt worden sind. Das wirft nicht nur ein Licht auf ein einzelnes Leben, sondern auch auf die Zeit der 70er Jahre.

Wie lässt sich das Sterben eines Menschen rekonstruieren?
Wir haben lange überlegt, wie wir mit seinem Namen und seinen Sachen umgehen. Wir wollen unsere Fundstücke erzählen lassen und mit ihrer Hilfe uns unseren Nachbarn vorzustellen versuchen. Das Dokumentarische rückt dabei etwas in den Hintergrund. Dann haben wir uns damit beschäftigt, wie Sterben medizinisch abläuft. Im Vergleich zur Geburt, weiß man relativ wenig darüber. Man weiß, welche lebenswichtigen Organe wann und wieso ihre Funktion aufgeben. Aber der Gesamtablauf ist offensichtlich noch ziemlich unverständlich. Es geht im ersten Teil nicht nur um den Einzelfall unseres Nachbarn, sondern um das Phänomen des Ablebens, um Gedanken und Gefühle in diesem letzten Moment. Wir vollziehen das Sterben nicht chronologisch nach. Von Innen ist das Sterben vermutlich gar kein linearer Prozess. Wir versuchen, die Wohnung für die Zuschauer zu einem Innenraum des Sterbenden werden zu lassen.

Lässt sich beschreiben, was da passiert?
Was beim Sterben passiert, ist völlig unterschiedlich. Es gibt die Berichte von sogenannten Nah-Toderfahrungen. Das sind Muster, die sich wiederholen. Oft ist von einer Lebensbilanz die Rede, dann tauchen häufig Kindheitserinnerungen wieder auf. Köche aus Hospizen erzählen, dass sie derzeit viele Nachkriegsgerichte kochen. Es gibt auch ein Abdriften in andere Gedankenwelten und Zeiten. Manchen Menschen ist es wiederum unangenehm, im Kreis der Familie zu sterben, weil die Angehörigen den Sterbenden nicht gehen lassen wollen.

Mit wem haben Sie bei der Recherche gesprochen?
Wir haben mit Mitarbeitern und Bewohnern in Hospizen gesprochen, mit Bestattern, mit amtlichen Betreuern von älteren Menschen. Oder auch einer Ethnologin an der Uni, die die Todeskultur in China und Deutschland vergleicht. Das öffnet einem die Augen, wie klein unsere Welt ist. Wann spricht man vom Tod? Was bedeutet das Sterben in unterschiedlichen Kulturen? Der parareligiöse Umgang mit dem Tod wird derzeit offenbar wieder salonfähig. Es gibt eine Art Ahnenkultur oder auch eine Engelkultur.

Das berührt dann eigentlich schon den dritten Teil Ihrer Trilogie, „Das Kabinett des Jenseits“?
Wir haben uns den Wahnsinn aufgehalst, drei unterschiedliche Themen an drei Abenden zu entwerfen. Im ersten Teil geht es um das Sterben, im zweiten um Abschied und Trauer der Hinterbliebenen. In Teil drei beschäftigen wir uns damit, wie die Hinterbliebenen glauben, mit den Toten Kontakt aufnehmen zu können oder auch nicht. Da gibt es Beispiele wie das Tonbandstimmenphänomen, das in den 70er Jahren groß war, oder das Tibetanische Totenbuch, das beschreibt, was mit der Seele nach dem Tod passiert und wie man als Überlebender ihr beim Übergang ins Nirwana helfen kann. Inspirierend war auch das Museum for Jurassic Technologies in Los Angeles, das an frühe Kuriositätenkabinette angelehnt ist. Das stand Pate für unser Kabinett im Haus Licht in Ehrenfeld, das wir eher als Installation begreifen und weniger als Performance.

Und der zweite Teil?
Der zweite Teil, „Das Totenfest“, findet im sogenannten Domsaal bei dem Bestatter Christof Kuckelkorn statt, der uns auch beraten hat. Das ist der Teil des Abschieds und der Trauer. Wir stellen die Frage, wie wir überhaupt trauern, wie wir mit Verabschiedungsritualen umgehen sollen, wenn wir keinen tradierten Ablauf mehr haben, an den wir uns halten. Trauerfeiern können heute aussehen, wie sie wollen. Alles geht. Doch die Kultur des Verabschiedens verschwindet zunehmend und entwickelt sich langsam zu einer Entsorgungskultur. Wichtig ist auch, was die Verstorbenen und was die Hinterbliebenen wollen – und wer sich durchsetzt. Wir laden die Zuschauer ein, diese Hinterbliebenen zu werden. Gleichzeitig ist es ein Stück über unseren unbekannten Nachbarn, der neben uns verstorben ist.

Und wie sieht die Bestattung von unbekannten Verstorbenen aus. Waren Sie auf der Beerdigung des Unbekannten?
Nein, wir haben davon zu spät erfahren. Es gibt sogenannte Sozialbestattungen, bei denen ein Geistlicher und jemand vom Amt dabei ist, manchmal kommen auch Mitarbeiter aus dem Hospiz dazu. Dann gibt es Vereine, die sich um solche Fälle kümmern und eine Abschiedsgesellschaft stellen. Ansonsten ist das eine sehr triste Angelegenheit.

„Der unbekannte Nachbar“ | R: Stefan H. Kraft & André Erlen | Teil 1: 29.1.-1.2. je 17, 19 u. 21 Uhr (Grafenwerthstr. 4/Paterre, 50937 Köln) | Teil 2: 17.-19.2. 20 Uhr (Bestattungshaus Kuckelkorn, Zeughausstr. 28-38, 50667 Köln) | Teil 3: 24.-26.2. durchgehend 17-22 Uhr (Haus Licht, Lichtstraße, 50825 Köln) | 0221 985 45 30

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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