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„Macbeth over Europe“
Foto:Thomas Morsch

„Die Spannbreite ist gewaltig“

28. April 2016

„Macbeth over Europe“ im Theater im Ballsaal – Premiere 05/16

Das klassische Playwriting ist bei freien Gruppen eigentlich verpönt. Stücke werden heute nicht geschrieben, sondern entwickelt. Nicht so beim Bonner fringe ensemble um Regisseur Frank Heuel. Es gibt vermutlich keine freie Gruppe, die derart intensiv und lange schon mit Autoren zusammenarbeitet. Weshalb man irgendwann auch das Label fringe writers gegründet hat. Darunter läuft nun auch das Großprojekt „Macbeth over Europa“. Sechs Autoren aus sechs Nationen machen schreiben Shakespeare berühmtes Stück um Macht, Prophezeiung, Karriere, Mord, Einsamkeit, Wahnsinn fort und übertragen es auf europäische Verhältnisse. Bereits vor zwei Jahren hatte das Ensemble unter dem Titel „Vor den Hunden“ ein ähnliches Projekt gestartet.

choices: Herr Heuel, „Macbeth over Europe“ – das klingt nach einer Heimsuchung?
Frank Heuel: Die Figur des Macbeth hat sich längst aus dem historischen Kontext gelöst. Im Theaterbereich ist sie zu einer Überfigur geworden und lässt sich für vieles einsetzen. Macbeth kann immer wieder mit aktuell lebenden Figuren verglichen werden, weil die Grundthemen topaktuell sind. Und im heutigen Europa erst recht. Als wir den Autoren das Thema vorgeschlagen haben, reichte die Reaktion von heller Begeisterung bis zur Frage, warum noch kein anderer auf diese Idee gekommen sei.

Welche Grundthemen sind das?

Frank Heuel
Foto: Thomas Morsch

Frank Heuel ist als frei arbeitender Regisseur tätig. Mit dem von ihm geleiteten fringe ensemble hat er u.a. Rechercheprojekte wie „Generation P“ realisiert. 2002 wurde Heuel in „Theater heute“ zum besten deutschen Nachwuchsregisseur nominiert, 2006 erhielt er den NRW Förderpreis für „Geschichten+“, seit 2007 entstanden Produktionen in Zusammenarbeit mit dem Theater Bonn, darunter „Zwei Welten“. Unter dem Label fringe writers entwickelt er internationale Theater-Autoren-Projekte. 2016 ist er Stipendiat der Kunststiftung NRW in Istanbul.

Eines der Grundthemen wird gleich in der ersten Szene mit den Hexen angesprochen. Wie lässt man sich von Vorhersagen beeinflussen? Was löst diese Weissagung oder Zukunftsperspektive aus, die jemandem aufgezeigt hat? Macbeth wird zunächst als edler, königstreuer Held, als enger Freund Banquos, als glücklich verheiratet vorgestellt. Dann gerät er mit der Weissagung in einen Strudel, aus dem er sich nicht mehr befreien kann. Dann natürlich die Gier nach Macht, die bei Macbeth eine unglaubliche Gewaltbereitschaft auslöst. Dieses Potential ist etwas allgemein Menschliches. Das Böse schlummert in uns allen und kann jederzeit geweckt werden.

Sechs Autoren aus sechs Ländern: Sind das ausschließlich individuelle Handschriften oder lassen sich auch nationale oder europäische Sichtweisen erkennen?
Das Projekt gehört zu jenen, die wir unter dem Label „fringe writers“ entwickeln. Wir haben einen zweieinhalbtägigen Workshop mit den sechs Autoren in Münster veranstaltet. Dabei haben wir über die Figur Macbeth diskutiert, haben uns ausgetauscht, was „Macbeth over Europe“ und Macbeth im jeweiligen Land sein könnte. Die Autoren haben sich dann auf vier Regeln verständigt: 1. Es muss ein Zitat aus „Macbeth“ vorkommen, wie klein auch immer. 2. Die nationale Perspektive sollte Inspiration und Impuls sein. 3. Die Zeit ist die Gegenwart. 4. Die Regie kann mit dem Material machen, was sie möchte. (lacht)

Wie frei sind die Autoren damit umgegangen, wenn man Marie Nimiers Stück „343 Fragen“ mit Goran Ferčec „Arbeiterhemd“ vergleicht. Ein Stück, das allein aus Fragen besteht, und ein Stück, dass Macbeth‘ Warten auf den eigenen Tod in Szene setzt.
Die Spannbreite ist gewaltig, auch wenn beide Stücke wie postdramatische Textflächen daherkommen. Marie Nimier stand bei unserem ersten Treffen stark unter dem Eindruck des Attentats von Paris. Für sie ist mit dem Anschlag der gesellschaftliche Körper gewaltsam verletzt worden und daraus hat sich ein Konvolut an Fragen ergeben, die jetzt das Stück ausmachen. Ich kann das nachvollziehen, weil ich aufgrund eines Stipendiums längere Zeit in Istanbul war und den Schock und die Paralyse der Gesellschaft nach den dortigen Anschlägen miterlebt habe.

Wie nähert man sich einem solchen Text?
Man muss die Energie, die Emotion, aus der der Text entstanden ist, verstehen. Ist das Wut? Ist das Verzweiflung? Ist das Zynismus? Dann muss man entscheiden, an wen die Fragen gerichtet sind. Auch das Changieren zwischen privaten und politisch-gesellschaftlichen Themen spielt eine Rolle.

Was fasziniert sie an Goran Ferčecs Stücken? 
Ferčecs „Arbeitshemd“ behauptet eine dramatische Situation. Das Stück ist der letzte Teil einer Trilogie, der erste mit dem Titel „Arbeitsschlachten“ war schon Teil unseres Projekts „Vor den Hunden“. „Arbeitshemd“ ist inspiriert von Heiner Müller. Die Figur, ein Fabrikbesitzer, ein Kapitalist, sitzt einsam wie in einem Turm, verkapselt und spricht. Es wirkt auf mich wie eine letzte Mitteilung, die in den Weltraum geschickt werden soll. Weit unter sich sieht er ein Meer aus blauen Hemden: Arbeiter. Er erklärt sachlich, was in so einem Fall der Revolte zu machen ist. Das ist kein Zynismus, sondern kalte Realität. Die Bildkraft von Goran Ferčecs Sprache, wenn er zum Beispiel von Lady Macbeth als „fliegender Füchsin“ spricht, finde ich enorm. Außerdem nimmt er sich als einer der wenigen Autoren im heutigen Europa dem Thema der Arbeit und des Kapitals an.

Wie haben Sie die Autoren ausgewählt?
Wir wollten eine Bandbreite aus westlichen und östlichen Autoren haben. Einige kannten wir schon von unserem „Vor den Hunden“-Projekt: Goran Ferčec, Marie Nimier, Ivo Briedis, Lothar Kittstein, Alexander Molchanov. Neu ist die türkische Dramatikerin Ceren Ercan. Man kommt, wenn man über Europa nachdenkt, nicht an der Türkei vorbei. Schon gar nicht im Moment.

Der Text unterscheidet sich allerdings stark von den anderen.
Der Text behandelt verklausuliert die Kurden-Thematik in der Türkei. Ihr Ansatz war schon bei unserem Workshop das Motiv des geflüchteten Kindes als Verheißung. Banquo selbst wird vorhergesagt, dass zwar nicht er, aber unter seinen Nachkommen Könige sein werden. Sein Sohn Fleance kann entkommen und begegnet in Ceren Ercans Stück einem kurdischen Flüchtlingsjungen. Schriftsteller in der Türkei schreiben derzeit sehr verklausuliert. Ich habe keinen Künstler bei meinem Aufenthalt in Istanbul getroffen, der nicht gesagt hätte, wir leben hier in einer Diktatur.

Die Stücke sind sehr unterschiedlich. Wie lassen sie sich in einer Inszenierung zusammenbinden?
Haben Sie einen guten Vorschlag? Wir haben den Anspruch, eine Zustandsbeschreibung von Europa anhand von sechs unterschiedlichen nationalen Perspektiven zu liefern. Die Stücke aus unserem Vorgängerprojekt „Vor den Hunden“ sind aus gemeinsamen Arbeitsphasen hervorgegangen und entstanden aus einer gemeinsamen Energie. Das neue Material ist deutlich heterogener. Ob wir das in einen Rahmen reinkriegen, weiß ich noch nicht. Es können auch sechs unterschiedliche Stücke mit unterschiedlichen Umsetzungen werden. Es gibt ein Motiv von Macbeth, der aus seinem Wahn nicht mehr herausfindet, das sich bei mehreren Autoren zeigt. Das könnte ein Leitmotiv des Abends werden.

Was für ein Bild von Europa ergibt sich aus den sechs Stücken?
In Ivo Briedis‘ Stück steht die Frage nach der Gestaltung des Lebens angesichts einer Welt, die einem Angst macht bzw. machen kann, im Fokus. Die Angst ist ein Motiv, das ich aus mehreren Stücken herauslese. Ich bin froh, dass niemand über den bösen Putin oder den bösen Erdogan geschrieben hat – aber das sind die Gestalten, die das Leben, die Figuren und die Atmosphäre dominieren.

„Macbeth over Europe“ | R: Frank Heuel | 19.(P), 20., 21., 27., 28.5. 20 Uhr | Theater im Ballsaal | 0228 79 79 01

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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