Die Überwältigung ist vorhersehbar – wenn der Regisseur und Szenograf Ersan Mondtag heißt. Die Kölner Bühne wird von zwei krallenbewehrten Adlerfüßen mit blutig abgeschnittenen Beinstümpfen und kleinen Muezzinfensterchen beherrscht. Zwischen den Füßen ruht ein Ei, das auch ein Atommeiler sein könnte und sich auf der Rückseite als Bunker entpuppt: Deutscher Adler mit integriertem Minarett – Michel Houellebecq hätte seine Freude daran. Doch eigentlich geht es um Elfriede Jelineks Textkonvolut „Wut“, das in gewohnter Manier die islamistischen Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt 2015 mit Anspielungen auf den Mythos des Herakles, auf deutsche Wutbürger oder patriarchale Strukturen verbindet. Vor allem aber geht es um die Verquickung terroristischer und medialer Strategien.
Während Benny Claessens anfangs als Muezzin etwas gelangweilt zur Jelinek-Andacht ruft, wird in einer Sänfte Margot Gödrös als schwarze Adlermutter hereingetragen, die über die Jugend (und damit den Islamismus als Jugendkultur) stänkert. Im rückseitigen Bunker fuchteln vier unschuldig weiß gekleidete Terroristen mit Maschinenpistolen herum. Gleichzeitig fahren zwei Leinwände herunter, die die Kämpfer im Stil von Pierre & Gilles abbilden: Als verklärungswürdige Kitsch-Objekte mit Blumengirlanden und Heiligenschein. Die mediale Reproduktion der Anschläge und die Idolisierung ihrer Akteure ist untrennbar mit dem Terrorismus verbunden und hat damit Teil an einer generellen Medialisierung und Ästhetisierung.
Evidenz des Bildes
Auch Ersan Mondtags Theater, das der Schrift immer den Vorrang streitig zu machen versucht, hat Teil an dieser Pikturalisierung. Die hochsymbolische Aufladung und das Pochen auf ihre Evidenz steht deutlich in Tradition der deutschen Romantik. Friedrich Schlegel lässt grüßen. Da schaukelt sich vor dem Eiffelturm eine zottig bepelzte Caféhaus-Gesellschaft mit Hermelin, Krönchen und Mützen an narzisstischen Kränkungen und einem Deutsch-Diktat auf. Oder Benny Claessens (und Philipp Joy Reinhardt) liegt mit Baskenmütze in einer Badewanne, verfertigt Charlie-Hebdo-Cover und zieht über Spott als vermeintliche Kritik her. Zu dieser symbolischen Aufladung passt letztlich auch die pathossatte streicherlastige Musik von Beni Brachtel.
Nicht genug: Die Inszenierung zapft auch noch die Emotionsbanken der Akteure mittels überbordender theatraler Selbstreferenz an. Yvon Jansen macht die Pariser Caféhaus-Gesellschaft wegen eines verpatzten Stichworts nieder, Benny Claessens hyperventiliert gleich zu Beginn eine (coroneske) Angstneurose, Lola Klamroth muss sich wegen eines Texthängers rechtfertigen. Der Firnis ist dünn, die Emotionen füttern den schauspielerischen Narzissmus, der nicht weit von wutbürgerlicher Aufgeregtheit entfernt ist. Ersan Mondtags Inszenierung hat ihr Verdienst aller inszenatorischen Kälte zum Trotz in genau dieser unauflöslichen Dialektik: Emotionalisierung, Ästhetisierung, Terror und Opferdiskurs sind kaum voneinander zu trennen und wir alle haben, gerade in Corona-Zeiten, Anteil daran.
Wut | R: Ersan Mondtag | 22., 29.12. je 19.30 Uhr | Schauspiel Köln | 0228 221 28 400
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Beziehung zwischen Fotograf und Model“
Sophia Burtscher spielt Ibsens Nora – Premiere 10/20
Freiluft-Stücke
Theater im August und September im Rheinland – Prolog 08/20
„Jemand, der sich weigert, ein Schräubchen in der Maschine zu sein“
Regisseurin Lily Sykes über „Bomb – Variationen über Verweigerung“ – Premiere 02/20
Eine Akte für den Akt
Konsens-Workshop bei Britney X – Festival 07/19
„Was wollen wir für eine Sexualität haben?“
Hermann Mueller und Anna Tenti über Britney X – Festival 07/19
Postkoloniale Perspektiven
Auftakt des Translocal-Festival am Schauspiel Köln – Festival 06/19
Gesellschaftliche Zumutungen
Herbstpremieren im Rheinland – Prolog 09/18
Zuhören, um die Zukunft zu retten
Radiomärchen zum Mitmachen: „Hurly*Burly“ von Paradeiser – Spezial 01/20
„Bachmann ist an der Gesellschaft zerbrochen“
Trilogie „Auf-Brüche“ über Schriftstellerin Ingeborg Bachmann – Premiere 12/20
Kunst und Kaufkraft
wehr51 in Zeiten der Pandemie – Auftritt 12/20
„Ich steh nicht auf Stillstand“
Choreografin SE Struck von SEE! über die Arbeit während Corona – Interview 12/20
Ich will tief leben
„Walden“ in der Studiobühne – Theater am Rhein 12/20
„Es ist schwer, die Schließungen zu verstehen“
Studiobühnen-Chef Dietmar Kobboldt über den kulturellen Lockdown – Interview 12/20
Wozu Theater (noch) in der Lage ist
Die Kölner Tanz- und Theaterpreise 2020 – Bühne 12/20
Tanz in zehn Dimensionen
Live-Übertragung des Ballet of Difference am Schauspiel Köln – Tanz 12/20
Zwischen(t)räume in Krisenzeiten
Die Nominierungen der 31. Kölner Tanz- und Theaterpreise – Bühne 11/20
Entblößte Unsitten
„Superversammlung“ und „in decent times“ in der TanzFaktur – Bühne 11/20
„Er war ein Genie des Augenblicks“
Emanuel Tandler inszeniert ein Stück über André Müller – Premiere 11/20
Gedoppelt und wiederholt
Paz und Pía Miranda mit „Twins – Ich & Ich“ im Orangerie Theater – Bühne 11/20
Reißen am Korsett
„Bye, Bye Hochkultur“ von Familie Rangarang – Bühne 11/20
Cis, WAP und Widerstand
Premieren im Rheinland – Prolog 11/20
„Nicht aufhören, großes Theater zu machen“
Choreografin Stephanie Thiersch über Tanz während Corona – Interview 10/20
Alle inklusive
Festival „All In“ von Un-Label in der Alten Feuerwache – Festival 10/20
Akrobatik im Alltag
Start von Urbäng rund ums Orangerie Theater – Festival 10/20
„Messerscharfe Gesellschaftskritik“
Elsa Weiland inszeniert Henry David Thoreaus Ökobibel „Walden“ – Premiere 10/20