Tamer ist eine typische Hardboiled-Figur. Typ einsamer Wolf mit ein paar emotionalen Druckstellen samt moralischem Airbag, der allerdings nicht zuverlässig funktioniert. Er haust in einem Hochhaus-Apartment und Sohn Hugo, von dem er getrennt lebt, ist sein letzter Anker in der Welt – bis die geheimnisvolle Luz an seiner Tür klingelt.
Die Gruppe Futur3 hat ihr neues Stück „The One Next Door“ ein „Game Noir“ genannt, in dem das alte Genre des Film noir anklingt. Die Erzählung des Plots in einer Rückblende ist ein Anknüpfungspunkt und zugleich der Link ins Game-Genre: Die Retrospektion schafft die Möglichkeit zur Reflexion und zur Frage, ob alles hätte anders kommen können (Text: Charlotte Luise Fechner, Dramaturgie: Sandra Nuy). Während also projizierte Comic-Zeichnungen das Ambiente des Plots (Regie und Zeichnung: André Erlen) illustrieren, während Stefan H. Kraft als Tamer finster-kalt dreinblickt, während Rebecca Madita Hundt die quirlig-draufgängerische Luz gibt, hören die Zuschauer über Kopfhörer eine dritte Stimme: Tamer kommentiert rückblickend den Plot. Gleichzeitig werden auf einer Jalousie Entscheidungsfragen zum Fortgang der Handlung eingeblendet, die die Zuschauer mit bereitliegenden roten und blauen Bändchen beantworten sollen. Doch Fragen wie die, ob Tamer lieber Bier oder Wasser trinken oder ob Luz oder Tamer mit der Knarre in den Tankstellenshop gehen soll, wirken belanglos und wenig handlungsleitend.
Eigentlich gibt es sowieso kein Entrinnen aus dem Plot. Luz hat Tamers Vermieter die Treppe runtergestoßen, was den Tod des Miethais zur Folge hat. In dessen Auto finden die beiden Flüchtenden dann eine Knarre, mit der sie auf Abenteuerfahrt gehen. Ein klassischer Filmtopos, dessen Bonnie & Clyde-Dramaturgie felsenfest gemauert ist. Doch Tamer und Luz sind als Spielfiguren angelegt: Sie tragen futuristisch anmutende graue Kostüme mit ausgestellten Schulterpartien, ihre Aktionen zerfallen in einen dialogischen Part und in einen roboterhaften, in dem sie wie ferngesteuert über die Bühne laufen. Die beiden agieren also einmal als handlungsmächtige Subjekte des bürgerlichen Theaters und zugleich als (allzu übertrieben künstliche) Gamefiguren. Wie programmiert ist ein bürgerliches Schicksal? Wie selbstbestimmt das Schicksal eines Avatars? Oder ist Leben sowieso ein partizipativer Prozess?
All das wirkt allerdings im Vergleich zu früheren Futur3-Produktionen und angesichts dessen, was Gaming-Theatre heute vermag, derart einfach und technisch unterkomplex, dass man dem Eindruck der Ironie nie ganz entkommt. Oder ist der ganze Abend ein einziges manipulatives Manöver, das selbst noch die Antworten der Zuschauenden aus einem Situation-Room steuert? Am Ende zerfällt das Schicksal Tamers in zwei Versionen: Während die Erzählerstimme behauptet, Tamer sei mit Luz beim Showdown ums Leben gekommen, geht er auf der Bühne in ein Zeugenschutzprogramm. Alles steuer- und vorhersagbar – oder doch nicht? Darin liegt die Pointe dieses netten, für Futur3-Ansprüche allerdings eher kleinen Abends.
The One Next Door | R: André Erlen | weitere Termine Anfang Spielzeit 2022/23 | Orangerie Theater | 0221 952 27 08
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