Der Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert nach Texten von Wilhelm Müller von 1827 setzt sich mit gesellschaftlicher Entfremdung auseinander. Vordergründig geht es um eine enttäuschte Liebe, darunter aber um gesellschaftlichen Ausschluss, Einsamkeit, Sehnsucht, Selbsttäuschung, aber auch Trost in der Natur. Wie öffnet man neue Wege zur heute hochästhetisch wirkenden Form des romantischen Liedes? In „24 Hebel für die Welt – Berichte aus der ‚Winterreise‘“ sucht die Musiktheater-Regisseurin Friederike Blum zusammen mit einem „mixed abled“ Ensemble (Ensemble aus Menschen mit und ohne Behinderung) neue Bedeutungsschichten in Schuberts Zyklus. Eine Produktion der Un-Label Performing Arts Company, koproduziert vom Beethovenfest Bonn.
choices: Frau Blum, wieso sind die 24 Lieder von Franz Schuberts „Winterreise“ Hebel – und wozu dienen diese Hebel?
Friederike Blum: Im Zentrum derWinterreise steht für mich ein Mensch, der ganz alleine ist und versucht, Verbindung zur Welt um sich herum aufzunehmen. Das wird in diesen 24 Stationen immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise gezeigt. Manchmal ist es die Verbindung zu einem anderen Menschen, manchmal zur Natur, in der sich dieser Mensch befindet. Im übertragenen Sinne geht es aber auch um die Verbindung zweier Musiker:innen untereinander oder zum Publikum. Dabei wird über die Beschreibung eines inneren Zustands ein kleines Fenster geöffnet, um jemanden quasi reinblicken zu lassen. Diese Verbindung, das ist für mich der Hebel, um etwas zu öffnen, etwas anzuheben, etwas genauer zu untersuchen.
In der „Winterreise“ geht es vordergründig um eine enttäuschte Liebe. Wie bringen Sie dieses Kaleidoskop der inneren Zustände auf die Bühne?
Die Figuren, die bei uns auf die Reise gehen, sind vier verschiedene Performer:innen mit unterschiedlichen Perspektiven und Herkunftsorten. Wir versuchen nicht, die Geschichte der „Winterreise“ nachzuerzählen. Der Ansatzpunkt war von Beginn eine collagenhafte Form, die die verschiedenen Zugänge zu dieser Reise widerspiegelt. Die vier Personen öffnen uns ihren jeweils individuellen Zugang zu dieser Reise. Es ist die Reise in das Innere, eine Beschreibung innerer Landschaften.
Wie unterscheiden sich diese vier Ansätze der Performer:innen?
Also wir haben einen Schauspieler im Team, der sich sehr für die theatrale Umsetzung der Geschichte interessiert. Wir haben einen Drehbuchautor und Filmemacher dabei, der sich mit dieser Art, eine Geschichte zu erzählen, beschäftigt hat und der auch einen eigenen Text zu unserem Abend beisteuert. Dann haben wir eine Sängerin mit einer klassischen Ausbildung dabei, die die Winterreise schon oft interpretiert hat und die auf der Suche nach einem authentischen Ausdruck in dieser Kunstform des Liedgesangs ist. Und dann einen Pianisten, der ebenfalls eine klassische Ausbildung absolviert hat, und nach Wegen sucht, wie man Musik zugänglich machen kann.
Entscheidend ist dabei, dass die Produktion einen Ansatz des „Aesthetics of Access“ verfolgt, d.h. Barrierefreiheit sowohl als erleichterten Zugang für das Publikum wie als spezifischen ästhetischen Zugriff. Was bedeutet das konkret für die „Winterreise“?
Wir arbeiten mit einem mixed abled Ensemble. Der Drehbuchautor Leonard Grobien sitzt im Rollstuhl und hat die Glasknochenkrankheit und der Schauspieler Jonas Relitzki hat eine geistige sowie eine körperliche Behinderung. Dazu kommen Barbara Schachtner und Toni Ming Geiger. „Aesthetics of Access“ bedeutet für mich, Theatermittel, die für manche Menschen nicht zugänglich sind, in andere Mittel zu übersetzen. Wie kann ich beispielsweise einen Vorgang für jemanden, der nicht sehen kann, durch Klang trotzdem wahrnehmbar machen. Oder einen Text für jemanden, der nicht fähig ist zu lesen, auf andere Weise vermitteln. Da gibt es unglaublich viele Möglichkeiten, und wir haben bei unserem Projekt nicht nur einen Weg gefunden, sondern versuchen, für diese 24 Stationen unterschiedlichste Mittel zu nutzen. Wir haben zum Beispiel den Text von Wilhelm Müller in eine Version von leichter Sprache übersetzen lassen, in der die sehr altertümlichen oder sogar unverständlichen Formulierungen aufgedröselt werden, die poetische Form aber trotzdem erhalten bleibt. Oder wir hatten bei den Proben immer wieder Menschen mit Sehbehinderung dabei, die uns zurückgespiegelt haben, dass z.B. sie die Geräusche eines Umbaus als Teil der Inszenierung wahrgenommen haben. „Aesthetics of Access“ bedeutet also nicht nur Dinge verständlich zu machen, sondern diese Dinge so in den ästhetischen Prozess einzubinden, dass sie Teil der Interpretation eines Stückes werden. Das Ganze ist also ein großes Experiment.
Was bleibt bei so viel Experiment von der „Winterreise“ übrig? Bleibt die Abfolge des Liederzyklus von Schubert als unterliegende Struktur erhalten?
Ja, der Zyklus der 24 Lieder und Stationen bleibt erhalten. Nicht an allen Stationen wird Schuberts Original vorkommen, manchmal bleibt nur der Text, manchmal ist es nur ein bestimmtes Bild. Der Pianist improvisiert beispielsweise einmal über Themen Schuberts. Die Sängerin spielt in einer Nummer über die gefrorenen Tränen mit dem Loop ihrer eigenen Stimme. Aus einem Lied wird ein Melodram, bei dem der Schauspieler den Text spricht und der Pianist dazu improvisiert. Oder alle vier kreieren eine Klangkulisse. Letztlich aber haben wir die Reihenfolge der Lieder als Stationen beibehalten.
Wenn Sie mit einem mixed abled Ensemble arbeiten, erhalten Textzeilen wie „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ oder „So zieh ich meine Straße dahin mit trägem Fuß, durch helles, frohes Leben, einsam und ohne Gruß“ eine zusätzliche Bedeutung.
Darüber haben wir viel gesprochen. Wir haben das Stück mittels Workshops und Improvisationen über die „Winterreise“- Themen entwickelt, die die vier Performer:innen ganz individuell betreffen und ansprechen, und dabei viel übereinander gelernt. Eine beglückende Entwicklung, die nicht von der Handlung der Original-„Winterreise“ ausging, die sich aber so ergeben hat, liegt schließlich darin, wie diese vier ganz unterschiedlichen Menschen allmählich zusammenfinden in der Musik. Wir starten mit den ersten Liedern sehr vereinzelt und jeder:jede präsentiert sein:ihr Innerstes und seine:ihre Themen. Am Ende formieren sich die vier Performer:innen zu einem Ensemble und schaffen zusammen etwas ganz eigenes. Darin spiegelt sich letztlich der Prozess unserer Zusammenarbeit. Das heißt, das Thema der Einsamkeit wird angesprochen, mündet aber am Ende in die Utopie des Gegenteils.
24 Hebel für die Welt | Brotfabrik, Beethovenfest | 2.10. und 10. - 12.10. | Orangerie Köln
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