Familienbande haben mit Verstrickung genauso zu tun wie mit verbrecherischem Komplizentum, meinte Karl Kraus. Die Theater im Rheinland tauchen im Januar tief in die Abgründe der Familien hinein. Am Bonner Theater hat Schauspielchefin Alice Buddeberg inzwischen ihre Liebe zum Autor Thomas Melle entdeckt. Als Uraufführung kommt dessen Drama „Bilder von uns“ in der Werkstatt heraus. Ein Stück um die Hauptfigur Jesko Drescher, einen erfolgreichen Manager eines Großunternehmens, der nach Jahren des Karriereüberflugs plötzlich Post bekommt: Ein Briefumschlag mit Nacktfotos von ihm selbst als Kind. Kein Absender, keine Erpressung. Nur Fotos, die tief in die eigene Vergangenheit führen. Aber in welche Vergangenheit? Die des eigenen Missbrauchs? Von dem Drescher nichts weiß? Oder den er verdrängt hat? Er beginnt nachzuforschen – mit verheerenden Folgen.
Auch bei Liv und Jorgen ist die Vergangenheit in den Fotos begraben, die irgendwo auf dem Speicher vor sich hindämmern und noch eine intakte Familie zeigen. Heute leben Vater und Tochter im früheren Haus der fünfköpfigen, heute zersprengten Familie. Doch auch die kleine Gemeinschaft ist vermeintlich bedroht. Ein Flüchtlingsheim wird in der Nähe gebaut und das Grab der ältesten Tochter Anna soll umgebettet werden. Liv organisiert ein Familientreffen, holt Mutter Lili und Schwester Katie zurück und es dauert dann nicht, bis die Fetzen fliegen. Autor und Schauspieler Jens Albinus legt mit „Umbettung“ seine zweite dramatische Arbeit am Schauspiel Köln vor, die er auch gleich selbst inszeniert.
Den gleichen Anlass hat auch Lot Vekemans ihrem Drama „Gift“ zugrunde gelegt. Vor zehn Jahren hat sich das Paar nach dem Tod ihres gemeinsamen Sohnes getrennt. Die unterschiedlichen Formen der Trauer haben sie auseinandergetrieben. Er ist nach Frankreich gegangen, um ein neues Leben zu beginnen. Sie ist im gemeinsamen Haus geblieben und konserviert ihr Leid. Jetzt soll der tote Sohn umgebettet werden, weil der Boden des Friedhofs kontaminiert ist. Sie und er sitzen im Wartesaal des Friedhofs und tasten sich mühsam in ein Gespräch, suchen nach geteilter Erinnerung, nach Möglichkeiten der Annäherung – und warten doch eigentlich nur auf die Friedhofverwaltung, die einfach nicht kommen will.
Und schließlich sollen auch die Verheerungen im brüderlichen Miteinander nicht zu kurz kommen. Die beiden realen Brüder und brillanten Schauspieler Jonas Baeck und Jean Paul Baeck stürzen sich im King Georg in ein Realfictiondrama. „Brüderchen und Schwesterchen“ heißt die Folge der Reihe „Die Stimmen der Dinge III“, die Philine Velhagen konzipiert hat. Diesmal als Drama zweier Brüder, das sich bis zu einem Showdown immer weiter hochschaukelt.
„Bilder von uns“ | R: Alice Buddeberg | 21., 27.1. 20 Uhr | Schauspiel Bonn | 0228 77 80 08
„Umbettung“ | R:Jens Albinus | 23., 24., 29.1. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
„Gift. Eine Ehegeschichte“ | R: Volker Lippmann | 16., 20., 22., 23.1. 20.30 Uhr | Theater Tiefrot | 0172 242 43 36
„Die Stimmen der Dinge III: Brüderchen und Schwesterchen“ | R: Acting Accomplices | 28.-30.1. 20 Uhr | King Georg | 0177 654 54 68
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