Die Bürokratie hat wie immer das letzte Wort: Drei schmale Herren in Gestalt von Katharina Schmalenberg, Rebecca Lindauer und Lola Klamroth treten an einen Schreibtisch heran. Sie breiten Akten zum Fall Katharina Blum aus. Sind sie die Archivare oder juristische Revisoren? Die junge Frau hat den Journalisten Tötgens der „Zeitung“ erschossen, sich gestellt und gestanden. Der Grund für die Tat ist eine brutale Denunziationskampagne Katharina Blums durch die Zeitung. Vorausgegangen ist nämlich deren One-Night-Stand mit dem Wehrdienstverweigerer, der aber von der Polizei als Terrorist verdächtigt und beschattet wird. Sie verhilft dem jungen Mann zur Flucht und wird anschließend dazu verhört. Die Polizei leitet Infos an die Zeitung weiter, die dann ihre Hetzjagd anzettelt. Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von 1974 hatte einen realen journalistischen Hintergrund namens Bild-Zeitung, in deren Klauen nicht nur er selbst, sondern auch sein Sohn Raimund gerieten.
Bastian Krafts Inszenierung setzt diese Vorlage mehr als nur kongenial auf der Bühne um. Hinter dem Bürokratentrio sind drei übermanns- bzw. überfraushohe Leinwände aufgestellt, auf dem die Personen des Dramas im Video erscheinen: Katharina B., gleich in dreifacher Ausfertigung, der Kommissar, Staats- sowie Rechtsanwalt samt Ehefrau, ein Polizist, eine Stenographin. Der technische Clou der Abends liegt darin, dass die Figuren auf den Leinwänden (Video: Sophie Lux) das Verhör ausagieren, ihr Text aber atemberaubend lippensynchron von den drei Schauspielerinnen auf der Bühne gesprochen wird. Wobei die nächste Volte gleich noch darin liegt, dass Katharina Schmalenberg, Rebecca Lindauer und Lola Klamroth auch alle Figuren im Video verkörpern. Die Wirkung ist ungeheuer, gerade durch die Intimität der Verfremdung. Vor allem die Verhörsequenzen geben dem ersten Teil des Abends den Charakter einer Passion. Die drei Leinwände wirken wie ein Flügelaltar, in dessen Mitte die leidende, aber selbstgewisse Katharina zu sehen ist, die von ihren Häschern auf den Außenflügeln bedrängt wird.
Taylos Swifts Song „Look what you made me do“ wird dann zum Puffer zwischen ersten und zweitem Teil. Die Dokumentation und Faktenpräsentation verwandelt sich allmählich in Kunst. Das Frauentrio bemalt nun die Leinwände mit Parolen, bewirft sie wie im Action painting mit Farbe, bemalt sie mit breiten Maler-Rollen: Alles in der Farbe Schwarz, also mit Druckerschwärze. Zugleich verdichtet sich die identifikatorische Aufspaltung: Katharina Schmalenberg, Rebecca Lindauer und Lola Klamroth verkörpern jetzt „nur“ noch Katharina Blum. Zugleich bricht die Realität der Fake News der Zeitung mit ungebändigter Wucht in Katharina Bs. Leben – ähnlich wie heute der verbale Müll in den sozialen Medien. Am Ende bringt Katharina den Journalisten zur Strecke – doch der todbringende Schuss verhallt in tiefster Bühnenschwärze. Totale Realität und totale Abstraktion fallen in eins: Wie in Ad Reinhardts berühmten „Black Paintings“ geht der Tod mit dem Ende der Kunst einher. Absolut sehenswert!
Die verlorene Ehre der Katharina Blum | R: Bastian Kraft | 2., 21., 31.3. | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Dunkle Faszination
Franz Kafkas „Der Prozess“ am Schauspiel Köln – Auftritt 02/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
Ein Martyrium der Erniedrigung
„Kim Jiyoung, geboren 1982“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/23
Ohne Opfer kein Krimi
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Prolog 12/23
Ende der Zivilisation
„Eigentum“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 11/23
Verliebt, verlobt, verlassen?
„Erstmal für immer“ am Schauspiel Köln – Prolog 10/23
Des Königs Tod und des Müllers Beitrag
„Yazgerds Tod“ am Schauspiel Köln – Auftritt 10/23
„Der Eigentumsbegriff ist toxisch“
Regisseurin Marie Bues bringt am Schauspiel Köln „Eigentum“ zur Uraufführung – Premiere 10/23
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24
Der Witz und das Unheimliche
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Prolog 08/24
„Draußen geht viel mehr als man denkt“
Schauspielerin Irene Schwarz über „Peer Gynt“ beim NN Theater Freiluftfestival – Premiere 08/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Zum Schweigen gezwungen
Heinrich Bölls „Frauen vor Flusslandschaft“ in Bonn – Auftritt 07/24