Kafkaesk – diese Beschreibung für albtraumhafte, beklemmende Situationen kam in den 1950ern auf und macht deutlich, zu welch einer kulturellen Größe der Schriftsteller Franz Kafka in den Jahrzehnten nach seinem Tod geworden ist. Wer es schafft, posthum eine eigene Wortneuschöpfung zu begründen, hat Originelles geschaffen. 2024 jährte sich der 100. Todestag Kafkas – und bot Anlass für neue Filme und Dokumentationen über den Autor, der von 1883 bis 1924 lebte. Einer davon ist „Franz K.“ von der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland, die Moderatorin Antonia Uhl zu Beginn der Veranstaltung als „feste Größe in der europäischen Arthouse Filmlandschaft“ bezeichnete.
Hollands neues Werk ist weniger eine lineare Nacherzählung des Lebens von Franz Kafka als vielmehr ein Mosaik. So vermischen sich beispielsweise Szenen aus Kafkas Leben mit Aufnahmen aus der heutigen Zeit, die Führungen durch das Kafka Museum in Prag begleiten. Zudem wird mehrfach die sogenannte vierte Wand durchbrochen, indem sich einzelne Protagonist:innen des Films direkt an das Publikum wenden und über ihre Meinung und Beziehung zu Kafka sprechen. Diese kreative Herangehensweise polarisiert: Im nachfolgenden Filmgespräch diskutierten Literaturkritiker Thomas Linden und Regisseurin Antonia Uhl ihre unterschiedlichen Bewertungen des Films.
Regisseurin nimmt sich viele kreative Freiheiten
So merkte Thomas Linden an, dass der Film einige zentrale Aspekte aus Kafkas Leben vernachlässige: Etwa, dass Kafka zeit seines Lebens als Jurist tätig gewesen sei und nie vom Schreiben leben konnte. Erst posthum habe er die riesige Aufmerksamkeit bekommen, die heute so zentral für seine Figur ist. Dafür hätte seine Expertise im juristischen Bereich viele seiner Geschichten inspiriert, etwa den „Prozess“, die „Strafkolonie“ oder „Das Urteil“.
Auch die Figur der Grete Bloch – eine von Kafkas Briefpartnerinnen – sei im Film nicht angemessen umgesetzt, so Linden. „Sie war eine wirklich emanzipierte Frau und hat ihr eigenes Geld verdient, das war für die damalige Zeit etwas Besonderes. Im Film darf sie nur kichernd Eis essen“, kritisierte Linden. Gut umgesetzt hingegen fand Linden Kafkas Beziehung zu seiner Schwester Ottla: „Sie war der wichtigste Mensch in seinem Leben.“ Das wird im Film auf jeden Fall deutlich, es gibt viele Szenen, in denen Franz und Ottla zärtlich miteinander umgehen und sich gegenseitig unterstützen.
Sensibilität als Erfolgsrezept Kafkas
Einig waren sich Linden und Uhl darin, dass es Holland gelungen sei, die „Marke Kafka“ auf die Realität herunterzubrechen und den Menschen dahinter zu zeigen: „Einer, der seinen Platz in der Welt nie richtig gefunden hat“, fasste Uhl zusammen. Nicht nur Linden stimmte ihr zu, auch einige Stimmen aus dem Publikum sahen das ähnlich. „Kafka hatte nie Interesse daran, bekannt zu werden“, sagte ein Zuschauer, der sich selbst als „großen Fan“ bezeichnete. „Das steht im spannenden Widerspruch dazu, dass es mittlerweile so einen krassen Personenkult um ihn gibt.“ Das habe der Film sehr gut gezeigt.
Eine andere Zuschauerin hob hervor, dass Kafkas Sensibilität im Film sehr schön dargestellt worden sei: „Das hat mir gut gefallen.“ Linden sieht in dieser Sensibilität eine der größten Stärken Kafkas: „Sie ist eines der Erfolgsrezepte seiner Literatur und der Grund, warum seine Werke immer noch relevant sind.“ Kafka sei es gelungen, die Essenz gewisser gesellschaftlicher Strukturen so aufzugreifen, dass sie auch in der heutigen Zeit noch gelten würden. Ein weiterer Teil seines andauernden Erfolgs sei, dass man sein Werk aus der Perspektive verschiedener Ideologien interpretieren könne. Egal ob geschichtlich, politisch, religiös oder philosophisch, Kafka könne man auf viele verschiedene Arten lesen. Am Ende waren sich Linden, Uhl und Publikum einig: Kafka ist einer der wichtigsten Autoren der Moderne. „Über ihn zu sprechen ist immer ein Gewinn“, befand Linden.
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