Donnerstag, 27. September: Für den Verleiher und Kinobetreiber Jürgen Lütz leben wir momentan in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg in einer Zeit des Umbruchs: „Die tatsächlich letzten Zeitzeugen versterben, was den Ansatz umso wichtiger macht, dass sich auch die nächsten Generationen noch mit dem Thema beschäftigen.“ Wie beispielsweise die sieben Protagonisten, die im neuen Film von Christoph Hübner und Gabriele Voss („Thomas Harlan – Wandersplitter“), „Nachlass“, zu Wort kommen. Fünf von ihnen sind die Kinder oder Enkelkinder von Männern, die im Dritten Reich Karriere gemacht hatten und unzählige Menschenleben direkt oder indirekt auf dem Gewissen haben. Zwei weitere sind Nachfahren der Opfer, die unter dem Naziregime zu leiden hatten oder sogar ihr Leben verloren. Für Christoph Hübner, der den Film zum Bundesstart mit seiner Co-Regisseurin Gabriele Voss und drei der im Film zu sehenden Protagonisten im Odeon-Kino im Kölner Severinsviertel persönlich vorstellte, war es wichtig, „einen Schritt weiter zu gehen als andere Filme, die wir kennen“. Er wollte in „Nachlass“ zeigen, wie „unsere Generation und die Generation unserer Kinder mit der Thematik umgehen“. Dabei beschäftigten sich die Filmemacher intensiv mit dem Komplex des Erinnerns, vom privaten bis hin zum öffentlichen Rahmen, in Form von Museen wie in Buchenwald bis hin zu den Stolpersteinen, die in den Innenstädten an Menschen erinnern, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden.
Hübner war es wichtig, die Positionen von Tätern und Opfern respektive deren Nachkommen einmal zusammenzubringen und miteinander in Dialog treten zu lassen, um auf diese Weise Brücken zu bauen. Einige seiner Protagonisten lernte das Regie-Duo über den Verein PAKH kennen, in dem sich jüdische und nicht-jüdische Deutsche im offenen Dialog mit ihren unbewältigten Erfahrungen der Eltern- und Großelterngeneration austauschen können. Seit Jahren hat sich dort auch Erda Siebert engagiert. Sie war „sehr beeindruckt von der Art, wie die Filmemacher auf uns zugekommen sind“. Für die Tochter eines NS-Offiziers war allzeit das persönliche Interesse der Filmemacher spürbar, was von Anfang an zu einem Dialog führte und die Protagonisten nicht alleine für sich reden ließ. Auch der aus Wanne-Eickel stammende Künstler Jürgen Grislawski wurde schon immer von der NS-Vergangenheit seines Vaters, eines Kampfpiloten, beeinflusst. „Zwischen uns gab es häufig Krieg, aber auch Versöhnung, da mich mein Vater sogar dazu ermuntert hatte, den Kriegsdienst zu verweigern. Als Künstler hat mich dieses Thema ohnehin schon immer interessiert – was hat das mit mir gemacht, so einen Vater zu haben“, erläuterte Grislawski beim Publikumsgespräch in Köln. Peter Pogany-Wnendt kam im Jahr 1970 mit seinen Eltern nach Deutschland, wo die Familie ihre jüdische Abstammung lange Zeit geheim hielt. Pogany-Wnendts Großeltern waren im Zweiten Weltkrieg ermordet worden, und auch er hatte seine persönlichen Erfahrungen zunächst im Verein PAKH mit anderen geteilt.
Was in PAKH besprochen und diskutiert wurde, haben die Teilnehmer lange Zeit nicht öffentlich gemacht. Peter Pogany-Wnendt ist der Ansicht, dass ein Mut machender Film wie „Nachlass“ dazu geeignet ist, Berührungsängste zum Thema überwinden zu helfen. Auch er konnte während der zweijährigen Vorbereitungsphase zum Film Vertrauen zu den beiden Filmemachern aufbauen. Für Christoph Hübner war die Entstehungsgeschichte des Films ein Zusammenspiel aus „Sammeln, Suchen und Komponieren“. Im Schnitt musste schließlich entschieden werden, wie sich die Aussagen der unterschiedlichen Protagonisten ergänzen oder miteinander in Dialog treten könnten. Einige Gesprächspartner haben es deswegen nicht in die finale Version geschafft, so auch die Aussagen von Gilad Hochman, den die Regisseure stattdessen noch für die Komposition der Filmmusik gewinnen konnten. Dieser mitunter „schmerzhafte Prozess des Weglassens“ hat nun aber auch dazu geführt, dass einige weitere kleine Filme über Nebenhandlungen entstanden sind, die die Filmemacher mit „Topographie des Erinnerns“ betiteln. Inwiefern diese den interessierten ZuschauerInnen dann über das kommende DVD-Bonusmaterial oder über Wege der Bildungsarbeit zugänglich gemacht werden, ist derzeit noch nicht final entschieden. In den kommenden Wochen soll „Nachlass“ sein Publikum auch zunächst einmal auf der großen Leinwand finden, wo die emotionalen Betrachtungen der Beteiligten sicherlich erst ihre ganze Wirkung entfalten können.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Neue afrikanische Jugend
„Coconut Head Generation“ im Filmforum – Foyer 09/23
Reifes Regiedebüt
„Sophia, der Tod und ich“ im Odeon – Foyer 09/23
Preiswürdiges Paar
„Tori et Lokita“ gewinnt choices-Publikumspreis der Französischen Filmtage – Festival 09/23
Gegen die Todesstrafe
„Sieben Winter in Teheran“ in den Lichtspielen Kalk – Foyer 09/23
Porträt eines großen Künstlers
„Thomas Schütte – Ich bin nicht allein“ im Filmhaus – Foyer 07/23
Von kinderlos zu kinderfrei
Sondervorführung „Me Time“ im Odeon Kino
Bruch mit arabischen Stereotypen
„Mediterranean Fever“ im Filmhaus – Foyer 05/23
Start der neuen „Filmgeschichten“
„Eins, zwei, drei“ im Filmforum – Foyer 04/23
Mysteriöses auf schottischem Landsitz
„Der Pfau“ im Cinedom – Foyer 03/23
Alle Farben der Welt
37. Teddy-Award-Verleihung bei der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Kochen aus Leidenschaft
„She Chef“ im Filmhaus – Foyer 02/23
Eine neue Tanz-Generation
„Dancing Pina“ in der Aula der KHM – Foyer 01/23
„Wir müssen begreifen, wozu wir fähig sind“
NRW-Premiere „Die Mittagsfrau“ im Cinenova – Foyer 09/23
Die Kunst der Verdichtung
„Das Lehrerzimmer“ mit Drehbuchautor Johannes Duncker im Weisshaus-Kino - Foyer 05/23
„Die Lust am Kinoerlebnis nimmt wieder zu“
3 Fragen an Filmforum-Leiter Robert Birkel – Kino.Köln 03/23
Drei NRW-Filme im Berlinale-Wettbewerb
20. NRW-Empfang im Rahmen der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Hochwertiges deutsches Filmschaffen
Verleihung des Preises der Deutschen Filmkritik 2022 auf der Berlinale – Foyer 02/23