Black Lives Matter, Fridays for Future, #MeToo – alle diese Labels stehen für Bewegungen Gleichgesinnter. Niemand käme allerdings auf die Idee, sie deshalb Kollektive oder Chöre zu nennen. Doch was könnte heute noch Gemeinsamkeit stiften? „Chöre des Spekulativen“ nennt Regisseur Sebastian Blasius seine neue Produktion, die sich auf doppelte Weise mit der Frage beschäftigt, was uns zusammenhält. „Der Chor ist immer schon widersprüchlich und divers und taugt nicht zum Repräsentanten für die Nation oder eine Klasse“, sagt Sebastian Blasius, der sich dem Chor „in Form einer Suchbewegung“ genähert hat.
Zusammen mit seinem Team hat Sebastian Blasius neun außereuropäische Autoren aus Jordanien, Brasilien, China, der Türkei, Marokko, Burkina Faso, Griechenland und Deutschland gebeten,neue Chöre in Stücke des europäischen Kanons hineinzuschreiben. Stücke, die fast durchweg bisher ohne Chor auskamen und eher dem bürgerlichen Individuum Raum gaben. Diese Implementierung führt zu erstaunlichen Resultaten – und zwar sowohl hinsichtlich des Kollektiven, wie auch im Blick auf die kanonischen Stücke von Sophokles, Schiller, Molière oder Shakespeare. Da mischen sich in die Handlung von „Kabale und Liebe“ plötzlich chatartige Stimmen mit allem möglichen Trash, wie man das aus Streamingformaten kennt; eine Liebesszene aus „Der Sturm“ wird mit einer Textfläche überflutet, die Frauenbilder aus dem Frühkapitalismus heraufbeschwört; eine Petition, die sich für Frieden und Verständigung mit der PKK einsetzt, ersetzt wiederum die Chöre der „Antigone“.
Die sechs Performer verdichten die ausgewählten Texte zu einer Installation, die auf die Textauswahl wiederum mit eigenen theatralischen Mitteln, vom chorischen bis zum solistischen Sprechen, von der choreographischen Gruppenbildung bis zur Vereinzelung antwortet. Sebastian Blasius will die Produktion nicht als Infragestellung unseres Kanons und einer utopischen Beschwörung des Kollektiven verstanden wissen, sondern als „Neuperspektivierung von Bekanntem“, das „Chöre im Konjunktiv“ zeige. Bisher war die Produktion nur im Stream zu sehen, mit der Aufführung im Freien Werkstatt Theater folgt nun endlich die Analog-Premiere.
Chöre des Spekulativen | R: Sebastian Blasius | 18. - 20.11. | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Gegen sich selbst antreten
„Fünf Minuten Stille“ am Kölner FWT – Theater am Rhein 10/25
„Vielleicht wird die Kindheit outgesourct“
Regisseurin Viola Neumann über „Das Experiment“ am Freien Werkstatt Theater – Premiere 07/25
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
Vom Wert der Arbeit
8. Auftakt Festival am FWT – Lesung 09/24
Wo ist Ich?
„Fleischmaschine“ am FWT – Theater am Rhein 02/24
Das 360-Grad-Feedback
„Fleischmaschine“ am Freien Werkstatt Theater – Prolog 01/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Die fünfte Gewalt
FWT mit neuer Besetzung – Theater am Rhein 11/23
Menschliche Abgründe
„Mister Paradise“ am FWT – Theater am Rhein 11/23
Vorbereitung aufs Alter
„Die Gruppe“ im Freien Werkstatt Theater – Prolog 09/23
Rechtfertigung auf Skiern
„Der Nachbar des Seins“ am FWT – Theater am Rhein 08/23
Groteskes Reenactment
„Der Nachbar des Seins“ am FWT – Prolog 07/23
Der Tanz der Krähe
„Die Ecke“ in der Alten Wursterei – Auftritt 01/26
„Als säße man in einem flirrenden Zirkuszelt“
Regisseur Sergej Gößner über „Der fabelhafte Die“ am Comedia Theater – Premiere 01/26
Im Hamsterrad des Grauens
„Der Gott des Gemetzels“ am Theater Bonn – Prolog 01/26
Das Meer in dir
„Aqua@Cycles“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 01/26
Auszeit der Ewigkeit
„Pyrofems“ von Wehr51 im Studio Trafique – Auftritt 12/25
Praktisch plötzlich doof sein
Helge Schneider präsentiert seine neue Tour – Prolog 12/25
„Man spürt den Theatermenschen“
Dirigent Daniel Johannes Mayr über die Bonner Wiederentdeckung der Oper „Die Ameise“ – Premiere 12/25
Über zwei Ikonen
„Marlene Piaf“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 12/25
Verlorene Jahre
„The Drop“ am Jungen Schauspiel in Düsseldorf – Prolog 11/25
So verwirrend wie das Leben
„Berlin Alexanderplatz“ am Schauspiel Köln – Prolog 11/25
Von der Aufgabe des Denkens
Audiowalk „Jeder stirbt für sich allein“ in Köln – Auftritt 11/25
„Ein armes Schwein, aber auch ein Täter“
Regisseur Hans Dreher und Schauspielerin Laura Thomas über „Laios“ am Theater im Bauturm – Premiere 11/25
Utopie auf dem Rückzug
Bertha von Suttners „Die Waffen nieder“ am Theater Bonn – Prolog 10/25