Wer erinnert sich nicht daran, was er am 11. September 2001 gemacht hat, als mehrere Tausend Menschen in New York ihr Leben ließen? Ähnlich geht es auch den Anwohnern der Keupstraße, fragt man sie, was sie in dem Moment getan haben, als am 9. Juni 2004 um kurz vor 16 Uhr die Nagelbombe direkt vor dem Friseursalon von Özcan Yildirim explodierte. Ohne groß überlegen zu müssen, kommt bei den meisten die Antwort. So auch bei Ayfer Şentürk Demir. „Ich saß direkt gegenüber in dem Reisebüro meiner Eltern am Tisch und war dabei, eine SMS zu schreiben – und dann hat es geknallt.“
Dass der Knall allerdings das Geräusch einer detonierten Bombe war, sei ihr im ersten Augenblick nicht bewusst gewesen. „Ich habe zuerst gedacht, ein Gasrohr sei geplatzt.“ Selbst als sie Rauch gesehen und Menschen vor Schmerz schreien gehört hat, habe sie das Geschehene noch nicht richtig einordnen können. „Ich habe nur gedacht: Was ist das? Was ist da passiert“, erinnert sich heute die 39-Jährige an das Attentat, das erst sieben Jahre später dem rechtsradikalen „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) mutmaßlich angelastet werden konnte.
Zunächst habe sowieso die Sorge um die Opfer überwogen, so Şentürk Demir. Die Frage nach dem Täter oder den Tätern habe sich ihr und der Mehrheit der restlichen Anwohner erst später am Tag gestellt. Nur die offizielle Vermutung, dass es sich um eine Racheaktion aus dem eigenen Milieu gehandelt haben soll, wollte niemand so recht glauben. „Wir haben direkt gesagt, dass diese Art nicht unsere Mentalität ist. Das wäre anders geregelt worden“, erklärt Ismet Büyük. Der 46-Jährige hatte die Explosion nur am Rande mitbekommen, weil das Reinigungsgeschäft seiner Freundin weiter unten auf der Straße liegt und diese wenige Minuten nach dem Anschlag abgesperrt worden war. Laut Büyük ist der früh aufgekommene Verdacht eines rassistisch motivierten Hintergrundes von den Ermittlern sogar offensiv angegangen worden. „Jeder, der von Rechtsradikalismus geredet hat, ist am stärksten durchsucht worden, war betroffen von irgendwelchen Bußgeldern oder ähnliches. Wir haben dahingehend also schon einen Druck gespürt.“
Man habe sich alleingelassen gefühlt, fügt Şentürk Demir hinzu. Das Gefühl, mehr Verdächtiger als Opfer zu sein, hat schließlich dazu geführt, dass sie zunächst aus Köln weggezogen ist. „Das war einfach kein Zustand mehr“, so die 39-Jährige. Büyük dagegen ist anders mit dem Problem umgegangen. „Wir zeigen nicht offen unsere Ängste, machen so etwas lieber mit uns selbst im Kopf aus“, erklärt er. Der Umstand, dass die Behörden einem nicht glauben wollten, habe bei ihm dazu geführt, dass er „seine Sachen lieber alleine regeln“ wollte.
So etwas wie Angst hier zu leben, empfinde er dennoch nicht, sagt Büyük selbstbewusst. „Wir haben nie Angst“, wirft Şentürk Demir lachend ein. Sie habe nie schlechte Erfahrungen hierzulande gemacht. „Und“, fügt Büyük hinzu, „uns ist bereits in der Türkei in der Schule beigebracht worden, dass Deutsche unsere Freunde sind.“ Damit sich so etwas wie die Morde des NSU hier in Deutschland nicht noch einmal wiederholen, da sind sich beide einig, müssen wir zusammenstehen – egal welcher Herkunft. „Dann sind wir stark. Die als einzelne Leute werden nicht so mutig sein“, ist sich Büyük sicher.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23
Welche Zukunft wollen wir?
raum13 droht das Aus im Otto-und-Langen-Quartier – Spezial 11/20
Neue Perspektiven in Mülheim
Goethes „Hermann und Dorothea“ im Stadtraum – Bühne 09/20
Modellprojekt für kreative Urbanität
Mülheimer „Zukunfts Werk Stadt“ zu Gast im hdak-Kubus – Spezial 11/19
Rechts stummschalten
Christian Fuchs diskutiert im NS-Dok über die Neue Rechte – Spezial 10/19
Wandel mitgestalten
Das Zeitspiralfedern-Festival von raum13 – Bühne 10/18
Sieben Jahre Stigmatisierung
Mahnmal-Diskussion in der Keupstraße – Spezial 06/18
Mülheim am Scheideweg (2)
Veedel zwischen Aufbruch und Gentrifizierung – Spezial 05/18
Mülheim am Scheideweg (1)
Veedel zwischen Aufbruch und Gentrifizierung – Spezial 05/18
Mahnmal der Schande
Verpfuschtes Gedenken an NSU-Opfer – Theaterleben 04/18
Nüchterne Eier
Marie Rotkopf mit „Antiromantisches Manifest“ im King Georg – Literatur 03/18
Tradition und Handel
Comicmesse Köln in der Mülheimer Stadthalle – Literatur 11/17
Panzer vs. Schulen
Intro – Kriegszitterer
Ausgebeutet und gegeneinander aufgehetzt
Teil 1: Leitartikel – Wie der Westen Afrika in die Dauerkrise gestürzt hat
„Rassismus und Herablassung“
Teil 1: Interview – Historiker Andreas Eckert über die Folgen des europäischen Kolonialismus
Für ein Ende der Ignoranz
Teil 1: Lokale Initiativen – Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ im NS-Dok
Gewalt mit System
Teil 2: Leitartikel – Patriarchale Strukturen ermöglichen sexualisierte Gewalt als Kriegsmittel
„Eine totale Machtdemonstration“
Teil 2: Interview – Kindernothilfe-Mitarbeiter Frank Mischo zu sexualisierter Gewalt in Krisengebieten
Erinnern im ehemaligen Arbeitslager
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Initiative Gedenkort Bochum-Bergen
Multipolare Wirklichkeit
Teil 3: Leitartikel – Der Abstieg des Westens und der Aufstieg des BRICS-Bündnisses
„Zunehmende Unglaubwürdigkeit des Westens“
Teil 3: Interview – Politologe Ulrich Brand über geopolitische Umwälzungen und internationale Politik
Welt am Wendepunkt
Teil 3: Lokale Initiativen – Soziologe Joris Steg über Chancen und Risiken einer neuen Weltordnung
Zum Herzen durch Verstand
Wie Deutschlands Erinnerungskultur ein NS-Opfer vom Hass abbrachte – Europa-Vorbild Deutschland
Sündenböcke, Menschenrechte, Instagram
Deutschland und der Krieg – Glosse
Generationenwissen
Intro – Auf ein Neues