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Julian Nida-Rümelin
Foto (Ausschnitt): Diane von Schoen

„Kultur muss raus ins Getümmel“

25. September 2025

Teil 3: Interview – Philosoph Julian Nida-Rümelin über Cancel Culture und Demokratie

choices: Herr Nida-Rümelin, wie wirkt sich der gesellschaftliche Rechtsruck auf die Kulturszene aus?

Julian Nida-Rümelin: Es gibt eine deutliche gesellschaftliche Veränderung. Dass die sich auch auf die Kulturszene auswirkt, ist völlig klar. Und was jetzt eben eintritt, ist, dass Praktiken, die mit durchaus nachvollziehbaren Motiven von links begonnen wurden, nun von rechts zunehmend angewandt werden und zwar in den USA weit stärker als bei uns. Aber auch die AfD probiert das schon aus oder ihre Sympathisanten. Und das lässt natürlich die Spannung und die Konflikte dort zunehmen. Das tut der Kulturszene und den Kulturinstitutionen nicht gut. Ich empfehle beiden Seiten abzurüsten.

Was meinen Sie konkret?

Die Vorstellung, dass Menschen, die nicht die eigene politische Auffassung haben, am besten nicht zu Wort kommen sollten, ist in jedem Fall falsch. Das ist unvereinbar mit der Demokratie. Die Demokratie beruht auf der Idee, dass wir nur gewinnen können, wenn wir Meinungsverschiedenheiten austragen, wenn Diskussionen geführt werden. Alles andere wäre nicht kulturverträglich, nicht demokratieverträglich. Ich bringe mal ein Beispiel, um zu sehen, was sich da alles verändert hat in den letzten Jahren: Nancy Fraser, eine der bedeutendsten kritischen Theoretikerinnen, links-feministisch, in den USA eine zentrale Figur der politischen Theorie – sie kommt aus der deliberativen Demokratietradition von Jürgen Habermas – ihr Vortrag in Deutschland wurde wegen palästinenserfreundlicher Äußerungen, die sie irgendwo getan hat, gecancelt. Und jetzt erzählt sie in den USA, in Deutschland gäbe es einen neuen McCarthyismus, der um sich greift, der die Meinungsfreiheit bedroht. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Alle pro-palästinensischen Gruppen beklagen, dass sie in ihren Meinungsäußerungen eingeschränkt sind, israelische Künstlerinnen werden ausgeladen. Jetzt sehen hoffentlich alle, dass es ein dummes Argument war, zu sagen: Es gibt doch keine staatliche Zensur, also gibt es keine Cancel Culture. Die gibt es verstärkt seit vielen Jahren. Ich habe das sehr präzise analysiert, und das muss ein Ende haben. Das gilt besonders für die Kulturinstitutionen.

Cancel Culture gibt es seit vielen Jahren“

Wer sollte die Grenzen ziehen? Was ist noch erlaubt?

Es gibt ja rechtliche Grenzen. Also Volksverhetzung, persönliche Beleidigungen, Aufrufe zur Gewalt etc. Ja, man kann zum Beispiel sagen, „From the river to the sea – Palestine will be free!“, ist ein Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel und damit eine Straftat. Ich nehme mal an, das ist eine angemessene Interpretation. Aber die, die sich dafür einsetzen, dass das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen beendet wird, die das schrecklich finden, dass Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser angegriffen werden, weil sich da einige Hamas-Krieger verstecken, die sind natürlich gedeckt durch die Meinungsfreiheit. Ich würde sagen, die entscheidende Grenze ist die, dass alles, was strafrechtlich unzulässig ist, konsequent sanktioniert wird. Das ist nicht der Fall. Auf den Social-Media-Kanälen gibt es Hass und Gewaltaufrufe und Diffamierungen und Beleidigungen zuhauf, oft ohne Konsequenzen. Das ist eine wirklich üble Entwicklung, der Staat agiert weitgehend hilflos. Das ist ein Ärgernis.

Der Staat agiert weitgehend hilflos“

Sehen Sie bei Kulturschaffenden, deren Arbeit vielfach unterfinanziert ist, das Buhlen um breites Wohlgefallen, dass man sich also vorauseilend anpasst?

In meiner Heimatstadt München sehe ich das gar nicht. Die Kammerspiele probierten es lange Zeit mit einem sehr woken Programm. Man hatte offenbar am Publikum vorbei Angebote entwickelt, mit der Folge, dass die Auslastung massiv gesunken ist. Es mag schon sein, dass das einige Theater in Deutschland tun. Also generell würde ich sagen, es ist ein Moment kultureller Freiheit, dass wir diese staatliche Finanzierung, ob durch Kommunen oder Länder, haben. Wenn wir das zu stark an bestimmte kommerzielle Ziele koppeln würden, ginge diese Freiheit verloren.

Im Hinblick auf Hass und Spaltung in unserer Gesellschaft – erreicht Kultur im Theater überhaupt die Richtigen?

Ich glaube, wir müssen raus ins Getümmel, um das ganz grob zu formulieren. Kulturelle Stadtteilzentren sind ein Ort der Begegnung. Da sind eben nicht nur die Opernbesucher. Wir müssen Begegnungen, Austausch und auch Konfrontation mit dem, was einem vielleicht nicht vertraut ist, fördern. Wenn das nur auf einigen hochkarätigen Theaterbühnen in Deutschland geschieht, erreichen wir nicht das Publikum, das wir brauchen.

Das hat mit links überhaupt nichts zu tun“

Haben Sie den Eindruck, Wokeness geht manchmal zu weit? Iris Berben beklagte neulich, die politische Linke fordere, dass Schwule nur noch von Schwulen gespielt werden sollen oder Juden von Juden. Wenn man kulturelle Aneignung ins Spiel bringt, schränkt man Kunst und Kultur ein. Wie sehen Sie das?

Das ist ein auch philosophisch interessanter Diskurs. Das, was als Identitätspolitik bezeichnet wird, ist in seinen Ursprüngen eher im konservativen und rechten Spektrum angesiedelt. Also wer sind „wir“? Wir, „wir Deutsche“, „wir Franzosen“, „wir, das Volk“? Was ist der essenzielle Unterschied zwischen der französischen Zivilisation und der deutschen Kultur? Dieser Diskurs spielte in der Vorgeschichte zum Ersten Weltkrieg eine fatale Rolle. Die Gemeinschaftszugehörigkeit gilt dabei als das Wesentliche. Dieser Kommunitarismus aus dem 19. Jahrhundert ist von links aufgegriffen worden und hat zu einer linken Identitätspolitik geführt, im Grunde kann man sie als einen entgleisten Kommunitarismus bezeichnen. In den 80er Jahren war der Kommunitarismus eine berechtigte Kritik des Liberalismus. These: Gemeinschaftszugehörigkeit ist wichtig, eine kapitalistische Marktgesellschaft mit hoher Mobilität setzt auf eigennützige Individuen, wir sollten dagegen auch das fördern, was den Menschen wichtig ist, die Nachbarschaft, Begegnungen, auch Familie, ja Heimat. Und das wurde dann radikalisiert und in eine linke Identitätspolitik verwandelt. Motto: Ihr könnt nicht mitreden, wenn ihr nicht zur selben kulturell sozialen, ökonomischen, kollektiven Identität gehört. Ohne dabei zu sehen, dass damit die universalistischen Grundlagen von Demokratie, von Menschenrechten, von Gerechtigkeit verloren gehen. Dann kommt es zu Auswüchsen, die Sie gerade zitiert haben. Das ist ja nur noch grotesk: Also, Mörder sollen nur noch von Mördern gespielt werden. Ernsthaft? Im Bundestag darf nicht über Sozialhilfe diskutiert werden, weil niemand dort Sozialhilfe bezieht? Das hat mit links überhaupt nichts zu tun.

Interview: Daniela Prüter

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