choices: Frau Seybold, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW hat gegen die Freie Szene die langen Messer ausgepackt. Wie ernst ist die Lage?
Ulrike Seybold: Die Lage ist ernst, auch wenn wir noch nicht zu 1.000 Prozent wissen, wie ernst es genau mit dem Haushalt 2026 wird. Es sind zwar schon einige Dinge bekannt. Es steht aber zu befürchten, dass mit dem Bekanntwerden des endgültigen Haushaltsplans die Dinge noch viel schlimmer werden.
Wird es überhaupt Überlebende geben?
Überlebende wird es natürlich geben, die Frage bleibt, wie viele weiterhin professionell arbeiten können und vor allen Dingen fragen wir uns, ob die Strukturen erhalten werden. Natürlich wird es irgendwie freie Kunst und Kultur in NRW geben, aber das Schlimme ist ja momentan, dass nicht nur einzelne Förderungen wegbrechen, sondern dass in die Systematik reingegangen wird und da ist auch noch nicht abzusehen, wo da Anfang und Ende sind. Da kann es dann schon erhebliche Verkettungen und Domino-Effekte geben.
Ausgerechnet den Kinder- und Jugendtheatern geht es am schlechtesten?
Das ist eine gute Frage. In der freien Szene sind im Prinzip alle prekär und wir waren gerade an der Schwelle, das ein bisschen zu verändern. Aber bei der Spitzenförderung Kinder- und Jugendtheater wird nicht nachvollziehbar anders gehandelt als bei den Erwachsenentheatern. In beiden Bereichen wird der Fördertopf halbiert, aber die Erwachsenentheater bekommen weiterhin 80.000 Euro im Jahr – im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters sind es nur noch 60.000 Euro pro Gruppe. 120.000 Euro aus der Kürzungssumme bekommen institutionell geförderte Häuser des Theaters für junges Publikum. Das ist also nicht nur eine radikale Kürzung, sondern auch noch eine Umschichtung zu den Häusern mit der Begründung, die bräuchten das so dringend. Das stimmt zwar – aber man kann natürlich fragen, warum es die Häuser, die nicht hauptsächlich für Kinder und Jugendliche produzieren, weniger dringend brauchen, denn bei denen bröselt und bröckelt es genauso. Man misst hier also mit zweierlei Maß, ohne dass genau klar wird warum.
Wie groß wird das Hauen und Stechen unter den Gruppen und einzelnen Sparten?
Das Problem wird ja jetzt erst einmal in Jury-Verfahren verlagert. Es wird für die Jurys eine sehr große Herausforderung werden unter diesen Bedingungen ausgewogene und faire Entscheidungen zu treffen. Ich erlebe gerade in der Szene untereinander eine erfreulich große Solidarität, wenig Hauen und Stechen trotz der existenzbedrohenden Situation, aber dennoch wird hinter den Kulissen gebangt und sich gefragt, ob man im nächsten Jahr noch seinen Job machen kann. Aber das Auswahlproblem haben nicht die Gruppen selbst.
Ist es dann so, dass je bekannter man war, desto länger würde man finanziert?
Das werden wir sehen, aber tatsächlich ist die Befürchtung groß, dass von oben nach unten, die Gruppen aus der Förderpyramide herausfallen. Das heißt, die die jetzt aus der Spitzenförderung fallen, haben gute Chancen in der Konzeptionsförderung und so bleibt in der Projektförderung immer weniger Platz für Nachwuchs oder Menschen, die nicht im internationalen oder bundesweiten Karussell mitspielen. Aber das bleiben natürlich Mutmaßungen, denn die Entscheidungen treffen am Ende Jurys.
Was kann das NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft überhaupt entgegenhalten?
(lacht) Manchmal fühlt man sich da eher machtlos. Aber natürlich versuchen wir im Moment alles an Argumenten in den Netzwerken zu sammeln und insbesondere auf die Besonderheiten der gewachsenen NRW-Szene hinzuweisen. Gerade die Strukturen und der unglaubliche Zusammenhalt untereinander bestehen aus unzähligen Puzzlesteinen und Dominosteinen, die nur in der Gesamtheit ihre volle Kraft entfalten. Das versuchen wir mit so viel Kommunikationsarbeit wie möglich in Richtung Politik und Verwaltung zu transportieren. Aber der Spagat wird größer, selber Förderer zu sein und im Auftrag des Landes diese Programme abzuwickeln und gleichzeitig die Stellschrauben so zu drehen, dass es innerhalb der unsäglichen Situation wie sie gerade ist, bestmöglich und fair für die Künstlerinnen und Künstler abläuft.
Angesichts der finanziellen Lage im Land wäre die Forderung, Kürzungen zurückzunehmen sicher kontraproduktiv. Aber was wäre denn eine Lösung?
Ich finde, dass man in einem so verletzlichen Bereich wie der freien Szene doch auf einen Status-quo- Erhalt kommen sollte. Auch wenn man es kaum noch erwähnen mag, aber es gibt einen Koalitionsvertrag in NRW, der sieht ein 50-prozentiges Plus für die Kultur insgesamt vor. Damit wäre eine Nullrunde in der freien Szene schon ein ziemlich moderater Kompromiss. Ich werde nicht müde darauf hinzuweisen, obwohl, es ist uns schon klar, dass wir aktuell nicht über eine 50-prozentige Aufstockung reden können. Das sehen auch die Künstlerinnen und Künstler so. Aber wäre es nicht sinnvoll, auch angesichts der Hoffnung auf bessere Jahre, gerade die verletzlichsten Bereiche, die ansonsten für immer verloren sind, zumindest von strukturschädlichen Kürzungen zu verschonen?
Warum gibt es eigentlich zur Spitzenförderung Tanz noch gar keine Aussagen?
Weil das im Zeitplan erst Mitte nächsten Jahres notwendig wird. Die hat aus historischen Gründen einen Zeitversatz von eigentlichen eineinhalb Jahren, jetzt durch die Zeitverzögerung bei der Spitzenförderung Theater nur noch ein Jahr. Wir wollten das eigentlich angleichen, aber das hat in der aktuellen Situation nicht geklappt. Die Ministerin fährt nach eigener Aussage immer nur auf Sicht und es werden nur Dinge entschieden, die einen unmittelbaren Zeitdruck haben oder sogar schon darüber hinaus sind. Deshalb wird momentan zum Tanz keine Aussage gemacht.
Jetzt reden wir im Kulturetat über einen Batzen Geld. Zu viel Steuergeld für die Stadt- und Landestheater? Zu viel Geld für die Ruhrtriennale? Plus den institutionellen Zusatzspritzen aus der NRW Kulturstiftung?
Ich persönlich denke, dass wir nicht auf andere Kulturbereiche schielen sollten, sondern wir sollten schauen, wie wir gut miteinander umgehen können. Ich bleibe aber dabei, dass in so knappen Zeiten gerade die vulnerablen Strukturen erhalten werde sollten. Man sollte tatsächlich einmal schauen, wer ohne Förderung komplett weg aus der Kulturlandschaft fallen würde und wer dagegen vielleicht einmal ein paar Jahre den Gürtel enger schnallen könnte, ohne den Laden gleich ganz dicht machen zu müssen. Mit dieser Perspektive kann man schon noch einmal abwägen, aber nicht unter der Prämisse, die anderen hätten grundsätzlich zu viel.
Aber graben die Stadttheater nicht auch schon an den Fördertöpfen für freie darstellende Kunst?
Das kommt immer mal wieder vor. Das ist aber nichts was ich gerade virulenter als vor 10 bis 15 Jahren erlebe. Man muss natürlich abwarten, wie sich das noch entwickelt. Aber auch das ist ein Argument für gute Jury-Verfahren mit kompetenten Leuten, denn man merkt den Anträgen oft an, ob sie nur gestellt wurden, um an Geld zu kommen oder ob es ernst gemeinte Arbeiten mit der freien Szene zusammen sind und dann spricht auch nix dagegen. Aber das muss immer von Projekt zu Projekt entschieden werden.
Welche Hebel hat die Freie Szene in NRW überhaupt, Protest alleine wird da ja wohl nicht reichen?
Ich glaube schon, dass laut zu werden und seine Stimme zu erheben Sinn macht. Auch das Vernetzen und Zusammenstehen ist ein ganz wichtiger Aspekt und da gibt die Freie Szene gerade ein gutes Bild ab und vernetzt sich stärker als je zuvor. Aber es muss auch auf Ebenen von Interessenvertretungen und darüber hinaus geredet werden. Reden, reden, reden und nicht locker lassen.
Gibt es überhaupt noch Hoffnung in der Szene?
Relativ wenig. Die nackte Existenzangst nimmt zu und ist schon überall zu spüren. Da bleiben dann nur noch ein paar Strohhalme. Hoffnung dominiert die Szene gerade sicher nicht.
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