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raum13 im Otto-Langen-Quartier

Mülheim am Scheideweg (2)

29. April 2018

Veedel zwischen Aufbruch und Gentrifizierung – Spezial 05/18

Mülheimer Freiheit: Die Schokoladenseite 

Von der Berliner Straße aus passiert man mit dem Clevischen Ring, wo der Berufsverkehr von den Bayer-Werken bis zur Innenstadt abgewickelt wird, die magische Grenze auf die „gute Seite“ von Mülheim. Schon bald erreicht man die Mülheimer Freiheit. Vor allem die direkte Lage am Rhein macht die Straße so attraktiv. Der Rheinboulevard mit seinen großen Wiesenflächen und Mäuerchen ist sowas wie das Juwel des Viertels. Hier kann man an warmen Tagen entspannen und hat trotzdem genug Ruhe – anders als am Dom oder den Rheinbrücken. Doch auch hier war das kulturelle Angebot lange dürftig. Das Limes an der Ecke zur Wallstraße ist das Urgestein des Mülheimer Nachtlebens. Die abgerockte Punk-Kneipe bietet alles, was das Kneipenherz begehrt: günstiges Bier, laute Musik, Poetry Slams und jede Menge abgedrehte Kundschaft. Neben dem Café Jakubowski und dem Café Vreiheit war das Limes aber lange der einzige Ort, zu dem man als Mülheimer mit Faible zu Untergrundkultur gehen konnte.


Die Punkrock-Kneipe Limes

Nach wie vor sind die drei Locations die beliebtesten in Mülheim, was die großen Menschentrauben vor den Läden in der Mülheimer Nacht unter Beweis stellten. Doch auch hier tut sich einiges. Gleich zwei neue Läden haben eröffnet und stellen sich während der Mülheimer Nacht vor. Da wäre zum einen die Mülheimer Freiheit, gleichnamig ihrem Standort. Die Galerie gibt es schon länger, feierte mit der Mülheimer Nacht allerdings einen Re-Launch: zu treibenden elektronischen Bässen von Martin Schmitz wurde Gin Tonic gereicht. In Zukunft will die frischrenovierte Galerie ihren Hinterhof freigiebiger öffnen: Neben Musik und Ausstellungen steht während der Fußball-WM beispielsweise auch Public Viewing auf dem Programm.

Gleich neben dem Limes hat sich auf der Wallstraße die Ranzeria angesiedelt. Das Konzept ist ähnlich wie das des Raums für Mülheim, wie Robin von Gestern (Künstlername), einer der Mitglieder des Vereins erzählt: „Die Idee war es, einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder mit guten Ideen einbringen kann. Wir haben zwei Slogans: ‚Wir machen alles, was Spaß macht‘ und ‚See a job, have a job‘. Wenn du ne´ coole Idee hast, dann mach es einfach.“


Mülheimer Nacht: La Ranzeria in der Wallstraße, Foto: © La Ranzeria

Zusammen mit neun Freunden hat Von Gestern die ehemalige Metzgerei übernommen. Sie alle sind um die 30 Jahre, künstlerisch interessiert und alle eint die Liebe zu Mülheim. Die Ranzeria ist dementsprechend noch künstlerischer ausgerichtet als der Raum für Mülheim. Jeden Abend ist hier etwas los. Meistens werden Platten aufgelegt. Ab und zu spielen Bands, wie auch bei der Mülheimer Nacht. Nach dem Konzert der Three Deuces gab es ein DJ-Set des draußen verlaufen-Kollektivs und eine Ausstellung zu sehen. Doch auch die Ranzeria positioniert sich politisch: „von der Exmetzgerei zur links-grünversifften Veggiekaschemme“ heißt es im Ankündigungstext zur Mülheimer Nacht. Die Resonanz ist jedenfalls gut: „Alle Leute die bei uns vorbeischauen finden es total cool“, meint Von Gestern. 

Auf der Mülheimer Freiheit konzentrieren sich momentan die kulturellen Veränderungen. Es wird hipper, attraktiver, aber auch lauter – was nicht immer für gute Stimmung unter den Nachbarn sorgt. Die Schokoladenseite zu sein, bringt eben auch Probleme mit sich.

Mülheimer Süden: Vom Arbeits- zum Wohnort


Deutz-Mülheimer Straße

Am Café Jakubowski vorbei gelangt man auf die Deutz-Mülheimer Straße. Die ganze Straße ist gesäumt von verlassenen Backsteingebäuden. Hier befand sich vor nicht allzu langer Zeit das große Industrieareal Mülheims. Wo früher einmal gearbeitet wurde, soll schon bald gewohnt werden. Anja Kolacek und Marc Leßle sind seit sieben Jahren Mieter auf dem ehemaligen Gelände der Klöckner-Humboldt-Deutz. Der Name stammt aus Zeiten, in denen dieser Teil der Stadt noch zu Deutz gehörte. Auf dem historischen Gelände wurde das erste Motorenwerk gegründet. Der Ottomotor wurde hier erfunden. Beide, Kolacek und Leßle, kommen aus der Theaterszene, doch irgendwann verloren sie das Interesse an der Form des Stadttheaters. „Uns interessierten diese Guckkastenkonstellationen nicht mehr so. Wir haben uns gefragt, was das Theater im 21. Jahrhundert sein kann und haben dann gesellschaftliche Themen genommen und sie versucht im städtischen Raum zu behandeln“, erzählt Kolacek. 

Für ihre künstlerische Arbeit suchten sie neue Strukturen. „Dann haben wir in Mülheim das Interims-Tanzhaus geleitet. Daraufhin kamen wir in Kontakt mit dem Besitzer des Geländes, der uns gefragt hat, was wir jetzt vorhaben. Und seitdem arbeiten wir zusammen.“ Deutzer Zentralwerk der Schönen Künste, so lautet der Name des Projektes. „Das Zentralwerk ist gleichzeitig Kunstprojekt und Kunstobjekt. Wir begreifen den Ort hier selbst als Thema. Das ganze Gebäude ist voll mit Geschichten. Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Schichten der Vergangenheit herauszuschälen und konsequent auszustellen“, so Kolacek. Ihre Leidenschaft für dieses Gebäude merkt man Kolacek an. Während der Mülheimer Nacht führt sie das Publikum durch die ehemalige Chefetage der Klöckner-Humboldt-Deutz. 


Der Hinterhof des raum13

Die Räume umweht der Geist der Vergangenheit. Gleichzeitig werden sie durch Installationen und Dokumente so modelliert, dass sie auch in die Gegenwart hineinreichen. „Hier steckt so viel drin, was wir in der Moderne noch nicht begriffen haben. Wir hängen jetzt noch in der Industrialisierung und sind schon in der Digitalisierung angekommen. Doch noch immer stecken wir in alten Denkmustern fest. Wir wollen hier auch herausfinden, was die Vergangenheit uns über die Zukunft sagen kann“, meint Kolacek. 

Im Mülheimer Süden wird gerade ein komplett neuer Stadtteil aus dem Boden gestampft. Auf insgesamt 70 Hektar sollen rund 3600 Wohnungen, Grünflächen und Gewerbegebiete entstehen. Die Großprojekte „Cologneo I“ und „Cologneo II“ sind mittlerweile fest in der Hand privater Investoren. Die ehemalige Klöckner-Humboldt-Deutz ist das letzte gallische Dorf in öffentlicher Hand. Raum13 verfügt über ungefähr ein Fünftel des ca. 6 Hektar großen Geländes, der Rest ist in Besitz der NRW Urban. Was die landeseigene Entwicklungsgesellschaft vorhat, ist weiterhin unklar. Zunächst wurde eine gemeinwohlorientierte Lösung mit öffentlich geförderten Wohnungen und Kunstprojekten als Losung ausgegeben. Vor zwei Monaten kam dann die Nachricht, dass das Areal an Investoren in ganz Europa ausgeschrieben wird. Eine gemeinwohlorientierte und kulturelle Nutzung des Geländes war in Gefahr.

„In der Zwischenzeit ist aber wieder viel passiert“, weiß Kolacek: „Jetzt finden wieder Verhandlungen statt.“ Die Ausschreibung scheint erstmal gestoppt. Doch die Zukunft des Geländes bleibt ungewiss: Vor allem ob und wie viel der historischen Substanz erhalten bleibt, ist fraglich. Kolacek plädiert für eine kulturelle Nutzung des Geländes, auf dem der erste Motor gebaut wurde. Im Rahmen des LAB 1869 soll im raum13 ab dem 5. Mai einen Monat lang über die Zukunft von Wohnen und Stadtplanung mit Akteuren aus Architektur, Politik und Kunst diskutiert werden. „Die Kunst kann ein Motor für die Stadtentwicklung sein. Darum geht es auch beim LAB 1869.“ 

Wie unter dem Brennglas verdichten sich in Mülheim momentan Fragen nach der Zukunft der Stadt und des Gemeinwohls. Die linke Rheinseite ist zugebaut und die Stadt platzt aus allen Nähten. Dadurch wird Mülheim mit seinen großen Brachflächen und der attraktiven Lage am Rhein immer interessanter. Sowohl Mieter, Investoren, Startups, als auch Kulturschaffende blicken immer öfter über den Rhein auf die Schäl Sick. Es stellt sich in letzter Konsequenz die Frage: Wem gehört die Stadt? Wer entscheidet darüber, wie wir leben wollen? Und wie sieht die Stadt der Zukunft aus, die mit Herausforderungen wie der Digitalisierung und Globalisierung umgehen muss?

Die Mülheimer Nacht bot die Chance sich als Stadtteil auch über solche Fragen auszutauschen, sich zu vernetzen und den zerstückelten Stadtteil etwas mehr zusammenwachsen zu lassen. Denn wie Mülheim in zehn bis zwanzig Jahren aussieht, hängt am Ende auch von dessen BürgerInnen ab. Kolacek dazu: „Es braucht jeden einzelnen, der sich für diese Rheinseite engagiert. Es ist eine große Chance da. Ich hoffe, dass wir sie nicht in den Sand setzen.“

Text/Fotos: Florian Holler

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