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Foto: Jens Pussel

„Das Umfeld wachrütteln“

16. September 2021

Frederike Bohr über ihr Stück, Rio Reiser und Formen des Protestes – Interview 09/21

choices: Frederike, in deinem aktuellen Stück verknüpfst du musikalisch und textlich die Biografie Rio Reisers und die Proteste seiner Zeit mit der Fridays for Future-Bewegung von heute. Woher kam die Inspiration zum Stück?

Frederike Bohr: Ich bin und war immer schon ein ganz großer Rio Reiser-Fan. Deshalb hab ich mich für Rio Reiser entschieden, für einen Teil seines Lebensweges. Dann hab ich überlegt, wie man das Thema mit dem Heute verknüpfen kann, sodass es wieder aktuell wird. Ich hab mich gefragt, was es für Parallelen gibt von damals zu heute. Nachdem ich sowohl seine eigens geschriebene Biografie nutzen wollte, als auch die Biografie die sein Bruder, Gert Möbius, verfasst hat, dachte ich, dass diese Protestbewegung an sich und das Thema Umweltschutz gut dazu passen würden. Auch die Fridays for Future-Bewegung bedient sich einer agitatorischen Sprache, ebenso wie Ton Steine Scherben damals.

Was fasziniert dich besonders an Rio Reiser?

Erstmal sein politisches Engagement, mit dem er mit der Band Ton Steine Scherben sozusagen gestartet ist. Dann hat mich fasziniert, dass er zusammen mit seinen Brüdern ganz am Anfang Theater gemacht hat. Die Art und Weise, wie er sich gab und was er sagte, zur Weltpolitik und zum Menschsein generell, seine Lyrik, hat mich von vornherein berührt. Außerdem mag ich seine Texte, sowohl die politischen als auch seine persönlichen Texte.

Es handelt sich bei dem Stück um eine Text-Lied-Komposition – meinst du, dass Musik auch in der Politik eine Rolle spielen kann, weil sie mitreißt und Menschen bewegt?

Es ist in jedem Fall so, dass Musik trägt, und dass dieser Slogan, „Keine  Macht für Niemand“ und auch die Art von politischen Songs, mit denen Ton Steine Scherben damals aufgetreten sind, überzeugt haben. Ob diese Musik was in der Politik verloren hat, weiß ich nicht. Wenn sich eine Partei dessen bedienen würde, wäre ich dagegen. Es geht glaub ich eher um den politischen Aufruf, etwas zu verändern.  Parteien haben die Möglichkeit, sich die Texte anzuhören und die in den Liedern angesungenen Punkte zu bearbeiten oder auch in ihr Parteiprogramm mit aufzunehmen – aber es geht nicht darum, sich mit der Musik zu profilieren.

Die Band sah sich zeitweise als Jukebox der radikalen Linken, und auch wenn das politische Programm ihnen vielleicht gar nicht fern war, fanden sie es nicht gut, so instrumentalisiert zu werden, wenn ich das richtig verstanden habe?

Genau. Ich habe mich mit seinem Bruder wegen der Buchrechte in Verbindung gesetzt, weil ich ausschließlich Original-Zitate benutzt hab, sowohl aus der Biografie von Rio Reiser als auch aus der von dem Bruder geschriebenen Biografie. Gert Möbius hat mir richtig auf den Zahn gefühlt – dass ich Theater mache, fand er gut. Er fragte dann noch in einem Nebensatz, ob ich denn einer Partei angehören würde. Ich sagte ihm, dass es mir wirklich nur um die Worte gehe und ich gerne ein Theaterstück daraus machen würde. Er sagte, das wär ihm auch wichtig, dass die Texte eben nicht im Sinne eines Parteiprogramms verbraten würden.

„Ich finde, dass Musik ein revolutionäres Moment sein kann“

An einer Stelle sagt Rio Reiser, dass man mit der Musik Sätze populär machen kann, und dass Sätze dann wiederum ein revolutionäres Moment sein können. Das spiegelt sich ja auch in seiner Musik, zumindest in seinen politischen Texten und politischen Liedern wider.

Absolut. Das hat er als Anfang 20-Jähriger in einem Interview gesagt, da ging es um „Macht kaputt was euch kaputt macht“, das Lied wurde relativ schnell bekannt. Mich hat das auch sofort ergriffen, weil ich auch finde, dass Musik ein revolutionäres Moment sein kann. Ich glaube, er wollte gar keine Politik machen, aber hat sich extrem viel mit Politik beschäftigt.

Was, würdest du sagen, waren politisch gesehen die Themen, die Rio Reiser am meisten beschäftigt haben?

Es gibt ein, zwei Sätze, in denen er sich mit Naturschutz auseinandersetzt. Ich glaube, es ging ihm ganz viel um Gerechtigkeit, um eine soziale Gerechtigkeit und auch um die Verarbeitung vom Nationalsozialismus, da ja nach dem Krieg viele Alt-Nazis noch in der Politik saßen. Er fühlte sich der 68er-Bewegung sehr nahe, aber er hatte da auch nochmal einen ganz eigenen Ansatz.  Ich fand es interessant, dass er sich den Studierenden angeschlossen hat, aber eher auf der Seite der Arbeiter stand. Rudi Dutschke war für ihn eine wichtige Person, den konnte er ernst nehmen, aber wenn es darum ging, sich in ein Plenum zu setzen und mitzudiskutieren, dann wurde ihm das oftmals alles zu verkopft. Rio Reiser war eher ein Macher, ein Protestbewegler, ein Protestorientierter, als jemand, der darüber sprach.

War er nicht auch sozial sehr engagiert?

Ich weiß, dass er sich für die Arbeiter und auch viel für Jugendliche eingesetzt hat. Zum Beispiel hat er heimatlose Jugendliche, die nicht mehr zu Hause zurechtkamen, unterstützt. Er hat sie im Rahmen des von ihm mit Freund:innen und Kolleg:innen besetzten Betanien-Hauses aufgenommen, um ihnen mit einer Ausbildung einen Weg zu weisen.

Er sagte ja auch, dass es ihm immer um die Außenseiter ging…

Ich  glaube, dass er sich selbst auch oft als Außenseiter gefühlt hat. Vielleicht wollte er aber auch gar nicht irgendwo dazugehören, sondern seine eigene Philosophie entwickeln.

„Ich glaube, viele betrachten Protest als eine Form von Lebensabschnittsaufgabe“

Gibt es eine Antwort auf die Frage, was es bedeutet, damals und heute politisch aktiv zu sein? Was sind die Unterschiede, was die Gemeinsamkeiten?

Gemeinsamkeiten sind auf jeden Fall, dass es um politische Themen geht. Es geht darum, die Umwelt oder das Umfeld wachzurütteln durch Protestbewegung, darum, Zustände zu verbessern, wie schon die 68er-Bewegung, die sich gegen Ungleichheiten in der Gesellschaft richtete und einen neuen politischen Weg suchte. Mir ging es im Stück darum, auch die Fridays For Future-Bewegung zu beschreiben, der es wichtig ist, auf die ökologischen Zustände einzugehen und wachzurütteln,  insofern zu verändern, um einen ökologischen Zusammenbruch zu verhindern. Es geht immer um eine Sache, für die gekämpft wird. Das sind die Gemeinsamkeiten. Ich glaube auch, dass viele Protest als eine Form von Lebensabschnittsaufgabe betrachten, damals wie heute. Die Aufrufe sind ähnlich, auch von der Sprache her, von „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“, zu „Keine Macht für Niemand“.

Und was ist anders?

Was anders ist, ist die Art des Protests. Dadurch, dass das Internet so einen Zuwachs bekommt, entwickelt sich Protest heute global, wohingegen er sich früher durch Mund-zu-Mund-Propaganda entwickelt hat. Heute setzt sich Greta Thunberg vor die Uni und demonstriert. Die Aktion geht dann viral und ein paar Wochen später passiert ähnliches überall und die Aktion wächst weiter. Es ist einfacher möglich, eine globalisierte Bewegung entstehen zu lassen in viel kürzerer Zeit.

Was glaubst du, wie Rio Reiser sich zu Fridays for Future positionieren würde?

Ich würde spontan sagen, dass er die Bewegung gutheißen würde. Aber den ganzen Hype würde er wohl eher kritisch sehen. Er lehnte es ab, instrumentalisiert zu werden. Den Parteien, die nun alle mit Umweltschutz werben, würde er vielleicht entgegenhalten, dass das viel zu spät kommt.

War es das erste Mal, dass ihr in der Open-Air-Stätte gespielt habt?

Genau, die Stätte, die am Rhein entstanden ist, ist neu. Das atelier mobile – tavelin´ theatre gibt es aber schon etwas länger. Es stammt von Jens Kuklik, der mit seinem mobilen Theater jetzt schon in der dritten Saison Köln bespielt. Die Spielstätte am Rhein ging ebenfalls von Jens Kuklik aus. Es ging darum, einen Kultursommer zu organisieren. Wir kennen uns schon sehr lange und haben schon vor Jahren gemeinsam Theater gemacht. Für mich ist es ein toller kultureller Ort, der mir die Möglichkeit bietet, mich auszudrücken. Das Ganze entwickelt sich langsam zu einer Community von Schauspieler:innen und Regiseur:innen. Ich kann dort sowohl inszenieren, meine Inszenierung zeigen oder auch selber spielen. Es gibt rund um das atelier mobile ein wahnsinnig interessantes Programm, ausgehend von Tanz, Performance, Lesungen.

Was waren Herausforderungen bezüglich der Spielstätte – vom Wetter abgesehen?

Die Herausforderungen liegen eigentlich beim atelier mobile als Organisator. Erst mal war die komplette Infrastruktur eine Herausforderung – und den Platz bespielbar zu machen. Eine weitere Herausforderung waren die einschränkenden Corona-Regeln. Das Open-Air-Konzept gab ihm die Möglichkeit, trotz Corona viele Theatergruppen einzuladen, die auf einmal ihre Spielstätten verloren hatten.

„Mir war schnell klar, dass ich Ton Steine Scherben-Songs mit einarbeite“

War „Von Mitläufern und Widerstand – Zeitlos in der Klimakrise“ dein erstes Stück, bei dem du so viel mit Musik gearbeitet hast?

Das Stück „Blut am Hals der Katze“, welches ich zuvor inszeniert habe, war für mich eigentlich die Initialzündung. Da lief auch schon ein bisschen Musik und ich merkte, dass ich gerne mehr mit Musik arbeiten möchte. Als es um Rio Reiser ging und ich wusste, ich möchte ein Stück über ihn machen und über Protest, war mir relativ schnell klar, dass ich Ton Steine Scherben-Songs auch mit einarbeite.

Viel im Stück funktioniert ja auch über Musik…

Genau. Die Zusammenarbeit mit Regina Melech, der Gitarristin, die auch die musikalische Leitung übernommen hat, war für mich ein totales Geschenk. Zwischen uns beiden hat es direkt gepasst. Wie Regina an die Musik drangegangen ist, hat zudem einfach wie die Faust aufs Auge zu Rio Reiser und zu Ton Steine Scherben gepasst.

Abschließend: Arbeitest du schon an einem nächsten Projekt?

Ich habe schon Ideen zu einem neuen Projekt und würde gerne wieder mit Regina Melech arbeiten, und dabei wird Musik auch eine Rolle spielen.

Von Mitläufern und Widerstand – Zeitlos in der Klimakrise | R: Frederike Bohr | 23.9. - 25.9. 20 Uhr | atelier mobile – tavelin´ theatre | 0179 736 78 44

Interview: Viktoria Sophie Lohner

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