„Dobryj vechir, my z Ukrainy!“ Ein Mann steht am Mikrofon – eine Tasche überm Arm, aus der eine weiße Plüschkatze herausschaut. Aus dem Zuschauerraum wird auf Ukrainisch zurückgegrüßt. Der Schauspieler Sebastian Anton übersetzt ihn. Der Mann erzählt von einem Freund, der ihn warnt, dass es jetzt bald losgehen würde. Er seine Tasche packen solle. Wie er mit Frau und Kind auf ein Dorf flieht. Von einem Anruf aus Berlin, dass Kyjiw jetzt zerbombt wird. Von Evakuierungszügen. Einer späteren Ankunft in Deutschland. Es ist Oleksii Dorychevskyi, der auf der Bühne seine eigene Geschichte erzählt. „Warum bin ich hier? Warum bin ich nicht in der Ukraine? Ich habe eine Antwort auf diese Frage. Ich stelle sie mir nur täglich aufs Neue“, sagt er später.
Schuldgefühle, weil Freunde und Familie bleiben. Weil man in einem Bett liegt. Sich selbst in Sicherheit bringt. „In einer von Russland okkupierten Stadt hatte ich keine Zukunft“, sagt Andriy May. Er ist der Regisseur der szenischen Lesung „Vom Krieg“, in der Texte einer mittlerweile überall zerstreuten Gruppe ukrainischer Dramatiker:innen von ihren Leben während dem Einmarsch Russlands berichten. „12.42 Uhr. Luftalarm, sofort Schutzraum aufsuchen. 13.36. Ende des Luftalarms. Auf weitere Nachrichten achten. 13.43 Uhr. Luftalarm.“ (Autorin: Anastasiia Kosodii) Morgens bis abends. Warnung. Entwarnung. „Das ganze Leben ändert sich an einem Tag“, schreibt Oksana Savchenko, die jetzt in der Slowakei wohnt. Rebecca Lindauer vom Schauspiel Köln sagt es stellvertretend für sie, schreit: „Ich forder: Schließt den Himmel über der Ukraine. Denn ihr werdet die nächsten sein.“
Es ist ein so wichtiges Projekt. Eine Auseinandersetzung, damit die Gleichgültigkeit und die Distanz schrumpfen, so May. 3 Wochen probten die Schauspieler:innen intensiv, setzten sich mit den Texten und den Menschen dahinter auseinander. Menschen, die Zeugen sind vom Krieg. Ihre eigenen Gedanken und Emotionen dazu werden in kurzen Interviews als Videos eingespielt. Als sich die Schauspieler:innen verbeugen, kämpfe ich mit den Tränen. Zuhause brechen sie aus. „Wir befinden uns jetzt in einer Zeit des Traumas. Wir werden jetzt traumatisiert“, sagt Dorychevskyi. Es ist ein bleibender Eindruck, der all das an diesem Abend nur annähernd erahnen lässt.
Vom Krieg | R: Andriy May | Fr 20.5. 20 Uhr | Schauspiel Köln, Depot 2 | www.schauspiel.koeln
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