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Guido Lamprecht und Seán McDonagh in „Die göttliche Komödie“
Foto: Matthias Horn

Todsünden als Basis der Aufklärung

30. April 2015

Dantes „Die göttliche Komödie“ im Schauspiel Köln – Auftritt 05/15

Die Hölle kann sehr kalt sein. In Dante Alighieris gewaltigem Epos „Die göttliche Komödie“ leiden die Bewohner nicht nur im brüllenden Flammenmeer, sondern auch im Eis der ewigen Verdammnis. Im Schauspiel Köln ist dieses Eismeer zu einem schneebedeckten Sandkasten geschrumpft. Vor einem Motel-artigen, doppelstöckigen Flachbau mit dem Schriftzug Via mala (Bühne: Thilo Reuther) liegen ein Autowrack und ein eisiger Spielplatz, der zugleich Friedhof und Bühne für die Verdammten ist.

Umstandslos ist der Einstieg in Dantes Jenseitsfresko aus dem 14. Jahrhundert allerdings heute nicht mehr zu haben. Was gehen uns säkulare Europäer Höllenkreise und Fegefeuer an? Und so huschen in Sebastian Baumgartens Inszenierung zunächst Huren, Freaks, ein zwielichtiger Arzt und ein heruntergekommener Akademiker vor dem Flachbau hin und her. Der Bodensatz der Gesellschaft, auf den Dante als Ich-Erzähler bei seiner Rückkehr aus dem Krieg trifft – ein Beckmann mit Baskenmütze, Lederjacke und Kleidersack auf der Suche nach seiner Wohnung und seiner Geliebten Beatrice. Doch wo eine vermeintlich reine Liebe war, ist nur noch bezahlter Sex, und der große Liebende hat sich zum traumatisierten Wrack verwandelt. Dantes anschließender Höllentrip wird in Köln wörtlich genommen. Aus einem schlanken, ausgezehrten Eckensteher wird plötzlich der Führer Vergil (solide: Seán McDonagh), der Dantes Selbstmordversuch vereitelt und ihm eine Spritze ins Bein jagt. Die restliche Bagage erklärt währenddessen diesen Schmerzensmann der Schlachtfelder in einer schäbigen Abendmahlszene zu ihrem messianischen Medium und sich selbst zur darstellenden Staffage in dieser Höllenfahrt.

Baumgarten begeht nicht den Fehler, mit dem Epos in einen Illustrationswettbewerb einzutreten. Die Höllenbilder gelingen mal eindringlich, mal lau, mal komisch: Charon streift mit einem Paddel vorüber, die Zauderer in Regenmänteln werden mit einer Oblate gefüttert, Dante vergreift sich brutal an einer Hure, zwei fresssüchtige Adipöse im Fatsuit wälzen sich im Schnee, die Geizigen klammern sich inbrünstig an ihren Besitz und taumeln in einer Goldstaubpolonaise von der Bühne, der Kannibale Ugolino ist ein Smokingträger im Rollstuhl mit blutigem Maul. So unterschiedlich die Höllenbewohner daherkommen, fast alle bitten den Straflagertouristen, ihr Andenken auf Erden zu bewahren. Die brutalste Strafe liegt im Vergessen.

Guido Lambrecht fächert die Figur des Dante weit auf, zeigt ihn als Suchenden, als Beobachter, als Verzweifelten, der sich dem Grauen bis zum äußersten aussetzt, der wütend Selbstjustiz an bereits Verurteilten verübt oder sich vergeblich als empörter Retter gebärdet. Schließlich sitzt er in einem Film als Schriftsteller an der Schreibmaschine, was zugleich Projektion oder Verheißung sein kann.

Baumgartens Höllentrip kommt zunächst als Parade diesseitiger Missstände, angelehnt an christliche Schulddogmatik daher, nimmt im Fegefeuer dann aber den Charakter eines mittelalterlichen Mysterienspiels an. Fünf weiß gekleidete, geschlechtslose Wesen hocken im Schneekasten und enthüllen als leibhaftige Allegorien auf ihrer Brust Lätzchen, auf denen die Todsünden verzeichnet sind. Dante gibt den dogmatischen Eiferer, applaudiert den Geständnissen, doch Baumgarten nutzt beispielsweise den „Zorn“, um daraus in einer rasanten kantianischen Volte ein Plädoyer für den freien Willen machen. Und so mutieren einige der Todsünden plötzlich zu Grundtugenden der Aufklärung. Dass Dante schließlich nach der Liebe fragt, leitet über zum letzten Teil, der Wiederbegegnung mit Beatrice im Paradies, das nicht so paradiesisch ist. Yvon Jansen im roten bodenlangen Kleid ist eine etwas ramponierte Geliebte. Dantes Versuch, aus ihr eine Eurydike im Totenreich zu machen, zu der er als Orpheus hinabsteigt, scheitert kläglich im Beziehungsknatsch. Am Ende gönnt sich Baumgarten einen todtraurig-sentimentalen Moment, wenn er die Darsteller Gustav Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ intonieren lässt, diese Apotheose der Verlorenheit und der Weltflucht in die Kunst. Doch Rettung gewährt auch sie nicht – eine Explosion und der Black machen der Welt ein Ende. „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren“, heißt es schon zu Beginn bei Dante.

„Die göttliche Komödie” | R: Sebastian Baumgarten | So 17.5. 18 Uhr, So 24.5. 19.30 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00

Lesen Sie auch unser Interview mit Sebastian Baumgarten

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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