Da kommt endlich zusammen, was zusammen gehört: Depression und Gesellschaft. In Köln trägt die Depression eine rote Wollmütze, einen langen Mantel über weißem Hemd und bewegt sich gefühlte zwei Stunden keinen Zentimeter aus der Mitte der Bühne. Marek Harlows Iwanow ist allerdings kein schöngeistiger Melancholiker, sondern ein selbstgefälliges Weichei, das seine Untätigkeit mit Selbstmitleid verklärt. Ein schwarzes Loch, das alle Materie anzieht und durch seine Trägheit eine Reibung erzeugt, bis sich alle an ihm wund gescheuert haben. Robert Borgmann inszeniert Anton Tschechows düstere Komödie „Iwanow“ um den Titelhelden, der sich von seiner Frau Anna völlig entfremdet hat, untätig vor sich hindämmert, sich in die junge Sascha verliebt und sich schließlich umbringt. In Köln allerdings lautet die Diagnose nicht Langeweile, sondern Depression als Symptom einer kapitalistischen Gesellschaft. Zu Beginn hatte Iwanow noch trostlos an einem Tisch gesessen, ein Alter Ego zu seinen Füßen. Doch dann wird Rocco Peuckers Bühne auseinandergesprengt in vier Inseln mit Erdhaufen, Wurzelwerk, Neongitter und einer Band. Und nun kreisen alle um die schwarze Sonne Iwanow. Gerrit Jansens engagierter Arzt Lwow rebelliert gegen Iwanows Empathielosigkeit; der Verwalter Borkin (Max Meyer) im Tennisdress wirkt wie der durch Sport selbstoptimierte, neureiche Hypermotoriker; Graf Schabelskij (Wolfgang Pregler) radelt kindisch auf dem Dreirad herein, geht aber auch als rollende Ermahnung zur Familiengründung durch. Nur die Anna der etwas blassen Simone Butscher argumentiert, keift, leidet jenseits aller Zynismen.
Im zweiten Akt greift die Abspaltung sogar auf die Dramaturgie des Stücks über: Jemand pinselt „Komödie“ auf die Wand und was dann folgt, ist eine grelle Parodie mit Chargen, überschlagenden Stimmen, mobartigen Perücken und pseudorussischem Pelzmützenchic. Sean McDonagh als Kossych orgelt seine Spielkartenmanie im Diskant durch. Lebedew (Guido Lambrecht), zu dessen Landgut-Partys Iwanow immer wieder flüchtet, ist ein beflissener Pantoffelheld, ohne Rückgrat; seine reiche Frau Sinaida wirkt bei Sabine Waibel wie eine erotisierte Investoren-Karikatur im Sophie-Reus-Sound. (Überhaupt wirkt der zweite Akt wie eine Travestie einer Volksbühnen-Inszenierung von Frank Castorf.) Es gibt Alkohol und Gurken als Partysnack, geredet wird vor allem über Geld. Hysterie und Kapital verstehen sich bestens. Nur Lebedews Tochter Sascha im Girlie-Trägerkleidchen sucht einen Ausweg aus dieser durchgeknallten Gesellschaft und hängt sich an Iwanow. Simone Burtscher (in einer Doppelrolle) gelingt diese Unbedingtheit, die später in berechnende Rationalität umschlägt, weit besser als die Figur der Anna.
Doch so wie die Hysterie letztlich nur die Kehrseite der Depression ist, so schlummert in Iwanows vermeintlicher Liebelei mit Sascha der Verdacht der kapitalistischen Verwertungslogik. Schon Anna hatte er der Mitgift wegen geheiratet und ihr später brutal die Wahrheit ihrer Krankheit ins Gesicht geschleudert, sie sogar rassistisch gedemütigt („Halt den Mund, du Judenweib“). Sascha ahnt das und liest ihm im Reitkostüm die bürgerlichen Pflicht-Leviten. Die Inszenierung bemüht sich gar nicht erst, die Unerklärbarkeit dieser Liebe(n) zu verstehen. Sie löst sie in Schmerzensbilder auf wie das der in ihrem Hochzeitkleid immer wieder zusammenrechenden Anna – während die Männerbande um Borkin, Schnabelskij und Iwanow sich gelangweilt auf dem Sofa flache Witze erzählt. Bereits am Ende des dritten Aktes ist dann Schluss mit depressivem Nichtstun: Iwanow erhängt sich bzw. seine rote Wollmütze an einem Haken und flüchtet ins Publikum. Nach diesem Selbstmord franst die bis dahin sehenswerte Inszenierung unverständlicherweise aus. Die Figuren tragen plötzlich historische Kostüme und verausgaben sich mit Künstlerlamento, Stepptanz, Ausbeutungsklagen – ein Sammelsurium theatereflexiver Plattitüden, die den guten Eindruck der Inszenierung leider eintrüben. Schade.
„Iwanow“ | R: Robert Borgmann | Sa 18.2. 19.30 Uhr | Depot 1 | 0221 22 12 84 00
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