Gelbe Tennisbälle ploppen ohne Unterlass aus einem Automat auf die Bühne. Doch in der Orangerie trainiert niemand seinen Return. Im Gegenteil: Es geht um Akkumulation. Was man hat, das hat man. 872 000 Tennisbälle im Wert von jeweils 2 Euro sollen es sein, erzählt die Tänzerin Theresa Hupp verschmitzt – man könnte sie also für eine Millionärin halten. Auf der Bühne von Sophia Schach in der Orangerie stehen außerdem eine Anzahl schwarzer Sockel – noch so ein Gegenstand der Wertsteigerung. Was darauf steht, hat Geld gekostet. Also muss erst mal Bilanz gemacht werden: Theresa Hupp und Will Saunders benennen, was von den Bühnengegenständen bezahlt ist und was nicht. „Mint Condition“, dt. „in gutem Zustand“, nennen die beiden ironisch ihren Abend. Ein Theaterstück, das nicht ganz neu, vielleicht sogar schon mal benutzt wurde: Möchte man dafür Geld ausgeben? Sollte man in diesem Fall unbedingt.
Unter dem Label „Sonder: Sammlung 2“ haben die Performerin Theresa Hupp und die beiden Musiker Will Saunders, der auch auf der Bühne steht, und Oxana Omelchuk fünf Texte von Gertrude Stein zum Ausgangspunkt genommen. 1936 hat die Dichterin Prosastücke über „Geld“ veröffentlicht, die schon im Steigerungscharakter ihrer Überschriften„Geld“, „Mehr über Geld“, „Noch mehr über Geld“ usw. die Akkumulation des Kapitals andeuten. Stein wird dabei mitunter ungewohnt konkret, wenn sie über Steuern oder den amerikanischen Kongress spricht. Doch Theresa Hupp und Will Saunders haben nur sprachspielerische Texte ausgewählt, denn auch dieSteinschen Wortwiederholungen, kreisenden Sätze und das reduzierte Sprachmaterial lassen aufgrund der ästhetischen Gestaltung weitere Grundzüge des Geldes wie Zirkulation und Abstrahierung erkennen.
Dass Hupp und Saunders die eigenen Soli per Münzwurf auslosen, verquickt zudem John Cages ästhetische Zufallsoperationen mit pekuniären Wertfragen: Kopf oder Zahl. Theresa Hupp reduziert ihren Tanz zu einer kleinen Einlage auf der Habenseite des Stücks. Anschließend setzen sich die beiden in trauter Eintracht auf die Sockel, Knie an Knie und gleiten leichtfüßig durch die Texte der Stein („Ist Geld Geld oder ist Geld nicht Geld“) und anderes Material. Da werden eigene Besitzverhältnisse in Frage gestellt; das Zählen des Geldes verdichtet sich in einem pseudologischen Zirkelschluss („Menschen können zählen. Menschen zählen Geld…Geld gibt es wegen des Zählens“), dazu sammelt Theresa Hupp Tennisbälle ein und schreitet die Bühne in strikt orthogonaler Struktur ab. Doch es geht auch um das Abtragen von Schulden. Will Saunders erzählt, sein Ehemann habe ihm ein Klavier geschenkt. Schuld ist bekanntlich die Grundlage vieler sozialer Beziehungen. Will Saunders versucht, seine Schulden gegenüber seinem Lebensgefährten mit einem selbst komponierten Song zurückzuzahlen. Liebe verbindet sich mit Geld und Kunst. Der faszinierende Abend verknüpft so immer neue Bedeutungsfelder und ist deshalb nicht nur in gutem, sondern in hervorragendem Zustand.
„Mint Condition“ | R: Theresa Hupp/Will Saunders | WA Okt. 2020 | Orangerie-Theater | 0221 32 78 17
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