Es wird gewürgt und geschluckt auf der Bühne. Denn da sucht offenbar ein Etwas aus dem tiefsten Inneren der Darsteller seinen Weg in die Freiheit. Ein letztes Aufstoßen und siehe da: Das Etwas scheint in die gefalteten Hände zu plumpsen. Was da ist? Nichts – zumindest nichts, was sich sehen lässt. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: „Gedankenkotze!“ Oder wie man es sonst kennt: „Utopie“ – die Vorstellung eines unerreichbaren Nirgendwo, einem Land der Wünsche und Ideale, das schon so lange existiert, wie die Menschheit selbst. „Villa Utopia“ heißt das ab 10 Jahren empfohlene Stück, das an diesem Abend auf der Bühne des Comedia Theaters Premiere feiert. Und „Gedankenkotze“, wie die zwei jungen Protagonisten Roya (Sibel Polat) und Serjan (Salim Ben Mammar) ihre Zukunftsvisionen nennen, ist eine gebührende Bezeichnung. Denn Zukunft, das hat auch mit Vergangenheit zu tun. Wenn man sich den Bauch mit allerlei fiesen Dingen vollgeschlagen hat, muss das erstmal raus, um Platz für Neues und Gutes zu schaffen. Und damit Gedankenkotze, sprich eine Utopie wahr werden kann, muss man sie herauswürgen, aussprechen, denken und zuallererst danach gefragt werden.
Ein Jahr lang war ein Rechercheteam aus SchauspielerInnen, TheatermacherInnen und PädagogInnen auf Streifzug durch Köln. Sie fragten Kinder und Jugendliche in Unterkünften für Geflüchtete, auf Schulhöfen und auf der Straße: „Wie stellst du dir dein Leben in zehn Jahren vor? Was wünschst du dir für dich und die Welt?“ In dem Kreativ-Wohnmobil namens „Villa Utopia“ erzählten, sprachen und verschriftlichten die Heranwachsenden ihre Vorstellungen, darunter auf Arabisch: „Ich wünschte, in Syrien wäre nichts passiert, und dass Spider-Man nach Syrien kommt“, oder auf Deutsch: „Ich wünsche mir eine sehr hübsche Frau.“ Kleine Zettel wurden mit diesen beschriftet und in eierförmige Utopienkapseln gesteckt, mit einem kleinen Licht ausgestattet und per Rohrpost gleichsam in eine Welt verschickt, wo alles möglich ist. Wo sollten sie also ankommen, wenn nicht im Theater?
So brauchten der Regisseur Manuel Moser und die Dramaturgin Maren van Severen neben diesen Utopien nur noch drei sehr überzeugende Darsteller und ein ziemlich abgefahrenes Gefährt auf der Bühne, um ihr Stück zu realisieren. Sie inszenierten die Reise von drei Utopiensammlern, von Martha (Bettina Muckenhaupt), die den Menschen das Träumen beibringt, und den Kindern Roya und Serjan. Gemeinsam sammeln sie im ganzen Land Utopien in Kapseln, um sie dann in Villa Utopia, die es zu erreichen gilt, wahr werden zu lassen. Mit Dialogen, Musik, Tanzchoreografien, Rückblenden und Gedankenfetzen in verschiedenen Sprachen – ernst und zugleich schwelgerisch – ist das Stück so vielfältig konzipiert wie es auch das Material war, mit dem die Recherchegruppe arbeitete. Es ist gleichsam das Ideal einer pluralistischen Gesellschaft, nach der sich das Stück sehnt und das zumindest an diesem Abend mit einem Publikum aus jungen und alten Menschen, sowie aus neuen und eingesessenen KölnerInnen sowieso schon Realität geworden zu sein scheint.
Mit den Bewohnern der Dörfer, die sie um ihre Utopien baten, feierten sie die magischsten Feste, erzählen Martha, Roya und Serjan in der Rückblende. Das Trio stellte alles auf den Kopf und fing manchmal an zu spinnen, denn: „Je unrealistischer die Utopien, desto mehr Spaß macht das Ganze.“ Am nächsten Morgen mussten sie jedoch stets Hals über Kopf aufbrechen. Denn die Wünsche wurden ja doch nicht wahr, und das zog den Zorn der Bewohner insbesondere auf Martha, in der sie allzu gern eine Prophetin sahen. „Make our lives great again!“, forderten sie und vergaßen, dass auch sie dazu ihren Teil beitragen müssen, wenn nicht den größten.
Das Gefühl, dass in unserer Gesellschaft Visionen fehlen, habe ihn zu dem Projekt bewegt, so Manuel Moser. Dabei ist gerade jetzt die wichtigste Zeit dafür. Im Vorwort zu „Kunde von Nirgendwo“, William Morris‘ Utopie aus dem Jahre 1890, schreibt Wilhelm Liebknecht: „Gerade in Zeiten der Auflösung, des Wechsels, der Umgestaltung ist der Hang zu Wanderungen ins Land Nirgendwo oder Utopia am lebhaftesten.“ Eine andere Erzählung, an die man bei „Villa Utopia“ unweigerlich denken muss, ist Janne Tellers nihilistisches Jugendbuch „Nichts“. Teller erzählt, wie der Schüler Anthon auf einem Pflaumenbaum sitzend allem Tun und Lassen einen Sinn abspricht und somit auch den Zielen seiner Mitschüler. So entsteht im Gegensatz zu „Villa Utopia“ hier eine junge Welt ohne Zukunft. Die Folgen sind in diesem Roman tödlich. So kann man wie Janne Teller das einzelne Kind mit seinen Grübeleien und Zweifeln in der Einsamkeit betrachten, oder wie Moser aus dem „Du“ ein „Wir“ machen und zur gemeinsamen Zukunftsgestaltung auffordern. Beides hat seine Berechtigung in einer Welt, die gerade für junge Menschen allerlei Anlass zum Zweifeln bietet. Doch sollte man dem Nichts wahrlich nicht unbedingt eine Utopie entgegenstellen, denn eine utopische Vorstellung bleibt ihrem Wesen nach eine unmögliche. Aber Spider-Mans Ankunft in Syrien ist nicht vollkommen unmöglich – vielleicht sogar als sehr hübsche Frau! Warum nicht?
„Villa Utopia – Ein besseres Leben ist überall“ | R: Manuel Moser | 11., 12.1., 1., 2.2. je 19 Uhr, 12.1., 2., 3.2. je 11 Uhr | Comedia Theater | 0221 888 77 222
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