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Meron Mendel
Foto: Felix Schmitt/Bildungsstätte Anne Frank

„Linke Politik hat die soziale Frage vernachlässigt“

30. August 2018

Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, über rechte Tendenzen in der Bevölkerung

choices: Herr Mendel, betrifft der Rechtsruck vor allem Parteien oder spiegelt er sich in der Bevölkerung wider?
Meron Mendel: In den letzten Jahren ist durchaus eine Verschiebung bei bestimmten Aspekten des Themas festzustellen, etwa bei der Feindseligkeit gegenüber Muslimen. Laut verschiedener Studien hegen schon seit den 1950er Jahren etwa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung rassistische Meinungen, etwa jeder fünfte soll antisemitisch eingestellt sein. Diese Tendenzen sind auch seit Anfang der 2000er Jahre in der Langzeitstudie von Wilhelm Heitmeyer zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit dokumentiert. Das Potential war von daher schon da. Über die Jahre gab es immer eine Diskrepanz zwischen den Einstellungen in der Gesamtbevölkerung und den tatsächlichen Ergebnissen der rechtsextremen Parteien. Genau daran hat die AfD angesetzt, indem sie sich als wählbare Alternative für diejenigen präsentierte, die sich als bürgerliche Mitte verstehen.

Was ist neu an der „Neuen Rechten“?
Zum einen ist das der Habitus. Gruppen der Neuen Rechten grenzen sich von ihren ideologischen Vorgängern dadurch ab, dass sie sich äußerlich eben nicht abheben. Das allein scheint für viele schon irritierend zu sein, dass Rechte ganz normale Menschen sein können, wie du und ich. Auch inhaltlich wollen sie keinen positiven Bezug zur NS-Zeit herstellen. Zweitens benutzen sie eine Sprache, in der sie sich viele Begriffe aus dem linken und liberalen Vokabular angeeignet haben, wie „Kulturrevolution“ oder „kulturelle Hegemonie“. Da ist der Begriff des Ethnopluralismus, den etwa der Autor Götz Kubitschek verwendet. „Pluralismus“ kennt jeder und ist sehr positiv besetzt, bei Kubitschek allerdings bedeutet es, dass es zwar ganz toll ist, dass es so viele Ethnien gibt, dass die aber doch bitte schön unter sich bleiben sollen. Das ist letztlich nichts anderes als die klassische Forderung der Rechten nach einer rassistischen Trennung von vermeintlichen Völkern oder Rassen. Und drittens ist es diese Tendenz, sich selbst stets als Opfer zu inszenieren – dass es keine wirkliche Demokratie gebe, weil ihre Meinung nicht gehört werde. Sie argumentieren mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit, um das Gegenteil zu erwirken.

Warum erfahren rassistische Gedanken wieder breitere Akzeptanz?
Ein entsprechendes Agenda Setting wurde schon lange vor der AfD betrieben. Roland Koch etwa hat schon 2007 eine Wahlkampagne gefahren, bei der er gegen kriminelle ausländische Jugendliche agitiert hat. Auch durch die Debatten um Sarrazin sind rassistische Thesen schon deutlich früher in den Mainstream-Diskurs gelangt. Zum anderen aber ist es die Erfahrung der schweren Finanzkrise der jüngsten Vergangenheit. Das und die intensive Berichterstattung über Migration und Flucht haben für eine authentische Verunsicherung gesorgt. Tatsächliche oder gefühlte Unsicherheiten sind Faktoren, die große Auswirkungen auf die Psyche der Menschen haben. Deswegen ist es für uns das A und O, diese nicht nur als Hirngespinste ab zu tun, sondern diese Ängste ernst zu nehmen und zu versuchen zu verstehen, was es mit Menschen macht, wenn sie verunsichert sind, wenn sie die komplexen globalen Veränderungen nicht mehr nachvollziehen können, aber von ihren Auswirkungen mehr oder weniger direkt betroffen sind.

Mit welchen Strategien versuchen Rechte, diese Entwicklung zu forcieren?
Da wird etwa eine Behauptung aufgestellt, die in der Öffentlichkeit auf Entsetzen trifft. Daraufhin wird erstmal zurück gerudert, so habe man es ja gar nicht gemeint – dennoch steht die Behauptung nun im Raum. Vor kurzem erst stellte die AfD im Bundestag eine Kleine Anfrage, in der sie einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Behinderungen und Ehen innerhalb der Familien herzustellen versucht, die angeblich bei Migrantenfamilien besonders häufig aufträten. Auch wenn sie mit solchen Aussagen für Empörung sorgen, schaffen sie damit dennoch auch Legitimität – um so mehr, je höher die Aufmerksamkeit ist, die sie generiert. Das stellt für die anderen Parteien und die Gesellschaft ein ständiges Dilemma dar: wie hält man dagegen, ohne durch seinen Protest der Neuen Rechten in die Hände zu spielen?

Was macht die AfD erfolgreicher als ihre Vorgänger im rechten Spektrum, z.B. die NPD?
Das hängt zusammen mit ihrer Entstehungsgeschichte. Die AFD ist als Protestpartei gegen Europa entstanden und war im Zuge der Eurokrise und der Europaskepsis daher im bürgerlichen Spektrum anschlussfähiger. Die rassistischen und antimuslimischen Strömungen in der AfD sind erst später deutlicher geworden, so dass sie ihr konservatives Image lange noch aufrecht erhalten konnte, obwohl ihre rechtsextremen Tendenzen heute eindeutig zu belegen sind. Zum Beispiel durch den Geschichtsrevisionismus, den etwa Wolfgang Gedeon, Björn Höcke, Martin Hohmann und Alexander Gauland betreiben und den wir auch von anderen rechtsextremistischen Parteien kennen.

Ist die AfD eine extremistische Partei?
Da bin ich vorsichtig. Die Definition von ‚Extremismus‘ ist sehr umstritten und ich persönlich sehe es sehr kritisch, wie inflationär der Begriff heute verwendet wird, um Kräfte zu benennen, die undemokratisch wirken. Es gibt diese weitverbreitete Ansicht, Extremismus von links und rechts sei gleichzusetzen und nur die kuschlige Mitte verfüge über die Wahrheit. Das halte ich für gefährlich – es geht nicht um rechts oder links, es geht um Gruppen, die menschenverachtende, rassistische Politik propagieren. Die Entscheidung, ob die AfD extremistisch ist, liegt bei denen, die mit dem Begriff arbeiten, aber sicherlich ist ihre ideologische Nähe zur NPD nicht zu übersehen.

In einigen europäischen Ländern sind rechtspopulistische Kräfte stärker im politischen Spektrum verankert. Geschieht das in Deutschland lediglich verzögert?
Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt wie in manchen osteuropäischen Ländern oder den USA. Ich glaube aber auch, dass es in Deutschland grundsätzliche Unterschiede zu anderen Ländern gibt. Nicht nur durch die wirtschaftliche Lage, auch dank der demokratischen, gerade auch sozialdemokratischen Tradition, die sich seit 1945 entwickelt hat. Das hat nachhaltigen Einfluss auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gehabt, und in den vergangenen Jahren haben wir sehen können, dass es eine starke Zivilgesellschaft gibt, die etwas entgegensetzen kann. Die große Hilfsbereitschaft im Rahmen der sogenannten Flüchtlingskrise etwa war ein sehr positives Beispiel und hat gezeigt, dass man den Rechten nicht ausgeliefert ist, auch wenn das Engagement heute nicht mehr so groß ist, wie vor zwei Jahren. Das hat auch eine politische Dimension, denn jemand, der Geflüchteten Deutsch beigebracht hat, wird nicht unbedingt AfD wählen. Es scheint ja paradox zu sein, dass die AfD gerade dort, wo viele Migranten und Geflüchtete leben, kaum Erfolge hat.

Weltweit sind als Reaktion auf die Globalisierung nationalistische Kräfte im Aufwind. Warum ist linke Politik dabei so sehr ins Hintertreffen geraten?
Das ist eine entscheidende Frage. Die Linke hat in den letzten Jahren zwei Fehler gemacht: Zum einen hat man einen Großteil der klassischen linken Themen vernachlässigt und damit die angestammten Wähler verloren: Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt, der Gegensatz zwischen Arm und Reich, die Rentenfrage, bei diesen Themen hat die Linke die Deutungshoheit aufgegeben. Die soziale Frage muss deswegen wieder Mittelpunkt linker Politik werden. Außerdem braucht es etwas, das man den Verlierern der Globalisierung anbieten kann – darauf gibt es aber leider noch keine guten Antworten. Zum Beispiel kenne ich einen Taxifahrer, der mich regelmäßig fährt und der früher eine kleine LKW-Speditionsfirma hatte. Nach dem EU-Beitritt von Polen konnte er im Wettbewerb nicht mehr mithalten und ist bankrott gegangen. Dem ist nicht damit geholfen, dass das Bruttosozialprodukt ja insgesamt gestiegen sei.

Was wäre eine bessere Strategie?
Ich plädiere nicht dafür, die AfD zu boykottieren, damit verstärkt man nur ihre Opferhaltung. Außerdem repräsentiert sie nach aktuellen Zahlen 17 Prozent der Wählerschaft, da wäre ein Boykott kein demokratisches Mittel. Man muss sie vielmehr auf weniger vertrautes Terrain locken. Redet man mit Vertretern der AfD, merkt man, das sie außer ihren drei, vier Themen nichts anzubieten haben. Welche Vorschläge hat die AfD denn etwa zum Straßenbau, gegen den Klimawandel, zum Pflegenotstand? Für die Probleme, die wirklich wichtig sind für unsere Gesellschaft, hat sie nicht einmal ansatzweise eine Lösung. Man muss an die AfD die gleichen Ansprüche anlegen, wie an die übrigen Parteien auch und man muss ihr immer wieder widersprechen.


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Interview: Christopher Dröge

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