choices: Herr Rathke, erscheint es nur mir so oder vernachlässigen die Pläne der neuen Bundesregierung den Schutz von Klima und Natur?
Johann Rathke: Ja. Das Thema Natur- und auch Klimaschutz wird derzeit von ganz vielen Themen überlagert. Das hängt sicherlich auch mit Diskursen zusammen, die wir während des Wahlkampfes erlebt haben: Wirtschaftswachstum, Ausbau und Entwicklung der Infrastruktur, Planungsbeschleunigung, Bürokratieabbau. Diese Schlagworte standen doch sehr, sehr stark im Zentrum. Natürlich auch andere Politikbereiche wie Migrationspolitik.
… haben den Löwenanteil ausgemacht.
Genau, sie haben den Wahlkampf doch sehr stark dominiert. Vor dem Hintergrund sind natürlich andere relevante Politikfelder, die bei vielen Politikern in der Prioritätensetzung und durchaus in der Öffentlichkeit als wichtig erachtet werden, im Wahlkampf nicht stark hervorgetreten – auch zu merken an der Ausgestaltung des Koalitionsvertrags oder bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen während der Koalitionsverhandlungen. Das ist durchaus ein Problem, weil die Ernsthaftigkeit dieser Politikfelder und der dahinterstehenden Krisen – der ökologischen Krise, des Artensterbens, der Klimakrise – weiterhin absolut akut und immer noch existenziell sind.
„Es braucht deutlich mehr Geld“
Glauben Sie, dass in dieser Legislaturperiode doch mehr Geld für den Naturschutz zur Verfügung stehen könnte?
Da bin ich mir tatsächlich unsicher. Der allgemeine Druck auf die öffentlichen Haushalte ist ja enorm. Vor daher besteht durchaus das Risiko, dass die bisherige Naturschutzfinanzierung noch eingekürzt wird. Ich hoffe, dass mehr Geld für Investitionen in Klimaanpassung, für den Ausbau auch grüner Infrastruktur und natürlich mindestens für die Beibehaltung der bestehenden Finanzierungsinstrumente bereitgestellt wird. Wenn das geschafft ist, dann ist schon viel gewonnen. Grundsätzlich braucht es aber deutlich mehr Geld.
„Zwischen Bund und Ländern bräuchte es ein stärkeres gemeinsames Verständnis“
Was sagt der Koalitionsvertrag?
Zumindest ist das, was ich am Anfang erwartet hatte, doch nicht ganz so negativ eingetroffen. Im Bereich der Naturschutzfinanzierung ist aus meiner Sicht einiges stark ausbaufähig. Das Problem ist, dass der Koalitionsvertrag an vielen Stellen ziemlich vage gehalten ist. Es kommt wirklich darauf an, wie während der Regierungsführung dann Dinge umgesetzt werden. Was natürlich auffällt: Andere Politikfelder dominieren sehr stark, die unter Umständen in ganz enger Wechselwirkung mit Naturschutz stehen. Wenn der geplante Bürokratieabbau und die damit zusammenhängende Planungsbeschleunigung mit Deregulierung verwechselt wird, kann es auch negative Wirkungen auf den Naturschutz haben. Ein wirklich positiver Aspekt des Koalitionsvertrags im Bereich der Naturschutzfinanzierung ist der Sonderrahmenplan „Naturschutz und Klimaanpassung“. Er bietet zudem die Möglichkeit, perspektivisch eine Gemeinschaftsaufgabe des Bundes einzuführen. Dadurch wird ein Finanzierungsinstrument geschaffen, das aus Bundes- und Landesmitteln gespeist wird und bei dem so die Kosten gerechter verteilt werden. Es ist sehr wichtig, dass wir einerseits sehr stark Richtung Bund gucken, andererseits aber auch auf die Länder. Sie tragen bei der Finanzierung schon jetzt einen großen Teil und werden das auch weiterhin leisten müssen. Vor allem sind sie wichtig bei der Umsetzung dieser Maßnahmen. Zwischen Bund und Ländern kommt es künftig also nicht nur auf eine adäquate Finanzierung an, sondern vor allem auf eine gute Zusammenarbeit bei der Ausgestaltung von Bund-Länder-Förderprogrammen. Gerade beim „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“ (ANK) wäre es besonders wichtig. Da knirscht es noch ein bisschen, weil der Bund seine spezifischen Interessen verfolgt und die Länder natürlich auch. Hier bräuchte es aus meiner Sicht doch ein stärkeres gemeinsames Verständnis, diese Programme ausgestalten zu wollen und sie dann wirklich effektiv in die Fläche zu bringen.
„Die Länder müssen entscheiden können, was vor Ort wichtig ist“
Es geht darum, die Bundesländer mit der Aufgabe nicht alleine zu lassen?
Ganz genau. Und natürlich auch, dass Bundesprogramme wie das ANK mit den Ländern gemeinsam ausgestaltet werden. Um die spezifischen Bedarfe in den jeweiligen Ländern zu berücksichtigen, braucht es Bundesprogramme, die ganzheitliche Ansätze verfolgen. Gleichermaßen braucht es natürlich auch Transfer von Bundesmitteln in Länderprogramme und auch direkt in die Länder, sodass sie auch selbst entscheiden können, was vor Ort wirklich wichtig ist, sprich was an Naturschutzmaßnahmen oder Maßnahmen zur Klimaanpassung tatsächlich nachgefragt ist. Bund-Länder-Programme wie der Sonderrahmenplan „Naturschutz und Klimaanpassung“ sollten perspektivisch als eine eigenständigen Gemeinschaftsaufgabe verankert werden. Die Bundesregierung hat jetzt den Prüfauftrag dazu erhalten und ich hoffe, dass wir den auch positiv beantworten.
„Deutlich über das politische Tagesgeschäft hinausgehen“
Ist es nicht so attraktiv, Naturschutz in die Koalitionspapiere aufzunehmen, weil sich nicht so viele Wähler:innen mitnehmen lassen?
Ich glaube: Es ist sehr attraktiv. Denn letztendlich verbirgt sich hinter Naturschutz die Frage, wie wir die natürlichen Lebensgrundlagen gestalten und mit den derzeitigen Herausforderungen umgehen wollen. Das sind die aktuellen Herausforderungen, die bei den Menschen vor Ort sehr präsent sind, wenn sie auch derzeit nicht auf Bundesebene intensiv diskutiert werden. Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich im Naturschutz. Viele Menschen sind von Veränderungen in der Natur und durch den Klimawandel mittlerweile schon sehr direkt betroffen. Gerade deswegen entsteht ein gewisses Bedürfnis und auch eine Sorge: Was entwickelt sich da? Wie geht Politik damit um? Um auf diese Sorgen zu reagieren, ist es, glaube ich, sehr klug für die Parteien zum einen sehr klare Antworten darauf zu finden, die auch deutlich über das Tagesgeschäft hinausgehen und zum anderen als Politiker:innen mit den Menschen auf regionaler Ebene auch zu diesen Themen in den Austausch zu gehen.
„Naturschutz bedeutet inzwischen die Wiederherstellung von Ökosystemen“
Warum werden resiliente, also widerstandsfähige, Ökosysteme immer wichtiger?
Resiliente Ökosysteme sind natürlich das A und O für ganz viele Wirtschaftssektoren. Mindestens die Hälfte der Wirtschaft ist von unmittelbaren Ökosystemleistungen abhängig. Ein Klassiker ist die Landwirtschaft. Ein weiteres Beispiel ist die Pharmaindustrie, die auf eine breite genetische Vielfalt angewiesen ist, wenn sie neue Produkte entwickeln möchte, die für die Medizin wichtig sind oder auch für andere Bereiche. So gibt es viele Beispiele, in denen Unternehmen und ganze Wirtschaftssektoren von Leistungen intakter Ökosysteme abhängig sind. Ein weiterer Aspekt ist natürlich der Klimawandel. Wir diskutieren ja gerade die Frage, wie Städte beispielsweise mit extremen Hitzeereignissen umgehen können. Dazu spielt das Thema Schwammstadt eine große Rolle und auch das Thema Klimaanpassung. Also, wie können sich Kommunen, wie kann sich die Gesellschaft insgesamt an Klimaveränderungen anpassen? Eine ganz zentrale Rolle spielen die Natur, intakte Ökosysteme und auch, Wasser in der Landschaft zu halten. Deswegen ist es nicht nur zentral, Naturschutz auf den Schutz der Natur zu beschränken, sondern er bedeutet inzwischen weitaus mehr, nämlich die Wiederherstellung von Ökosystemen. Da findet tatsächlich ein Paradigmenwechsel statt. Im August letzten Jahres hat die Europäische Union die sogenannte Naturwiederherstellungsverordnung beschlossen und die Mitgliedstaaten damit beauftragt, innerhalb von zwei Jahren Pläne zu entwickeln, mit welchen Maßnahmen sie die Natur und die Ökosysteme darin wiederherstellen möchten. Da der Zustand der Natur sehr schlecht ist, ist mit jeder neuen Idee auch die Fragilität der Ökosysteme und allem, was damit systemisch zusammenhängt, gefährdet. Deswegen ist es extrem wichtig, Druck auch auf die Politik auszuüben, um hier relativ schnell und vor allem langfristig in eine Wiederherstellungsagenda zu kommen.
„Auenwälder puffern Extremveränderungen von Wasserständen ab“
Es braucht also in den Städten Flächenentsiegelung und Hochwasserschutz. Was noch?
Ja, in den Städten spielt das eine ganz entscheidende Rolle. Es gibt mittlerweile viele Städte, die erste Konzepte entwickeln. Doch man darf dabei nicht nur auf die Städte schauen, es ist auch wichtig, die Gesamtlandschaft im Blick zu haben. Sehen Sie sich den Dürremonitor [Programm des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung zur Messung der Bodenfeuchte in Deutschland; d. Red.] an: Die Karte ist aktuell ziemlich rot. Das heißt, Wasser wirklich in der gesamten Fläche zu halten, ist enorm wichtig. Für die konkrete Umsetzung brauchen wir möglichst viel Biomasse: Wälder, Hecken, eine strukturreiche Landschaft, natürliche Ökosysteme wie Auenwälder. Sie puffert Wasser und Extremveränderungen von Wasserständen ab und hält Wasser möglichst lange in der Landschaft. Wichtig ist, dass in allen politischen Entscheidungen die Auswirkungen auf Natur mitgedacht werden, beispielsweise, was sie für Klimaanpassung oder Naturwiederherstellung bedeuten können. Wir haben jetzt mit dem „Bau-Turbo“ ein ganz prominentes Beispiel. Dabei geht es darum, durch eine Veränderung des Baugesetzbuches die Errichtung von Wohngebäuden zu vereinfachen. Das ist ein Beispiel, in dem Zielkonflikte auch in politischem Handeln deutlich werden. Zum einen steht die Wohnungspolitik unter Druck, mehr Wohnraum zu schaffen. Zum anderen möchte man dies möglichst schnell, weil es vielleicht auch symbolisch das Handeln von Politik unterstreicht. Da sind wir sehr kritisch, weil es den Druck auf Fläche deutlich erhöht und den wohnungspolitischen Nutzen in kein gutes Verhältnis zu dem Schaden stellt, der dadurch entsteht. Aus meiner Sicht ist dieser Paragraf 246 e BauGB, um den es geht, nicht wirklich effektiv, denn er intensiviert den Druck auf die Fläche, erhöht den Flächenverbrauch und schürt Nutzungskonflikte von Flächen. Fläche dient nicht nur der Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen, sondern wird auch für die Landwirtschaft gebraucht. Vor dem Hintergrund muss man sehr sensibel damit umgehen und genau überlegen, ob dieses politische Instrument für das Problem, das ich lösen möchte, überhaupt geeignet ist oder die Fläche dabei Schaden nimmt. Beim sogenannten Bau-Turbo ist das aus meiner Sicht eher ein plakativer Vorstoß, aber eben kein effektives Instrument.
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