„Gestern Morgen erhielt ich deinen langen Brief und am Nachmittag deinen lieben Sonntagsbrief. Dafür sollst du nun einen ganz heißen lieben Kuß haben. Den Briefträger schien das Verschen auf dem letzten Brief besonders zu interessieren, er las es durch und sagte: „Der Herr ist wohl Antisemit!“ Ich sagte prompt: „Allerdings, und was für einer.“ Jeden Tag schreiben sich Hans S. und Trude G. Jeder Brief versiegelt durch eine antisemitische Verschlussmarke.
Diese und weitere Sammelmarken sowie Klebezettel stellt das NS-Dokumentationszentrum in der Sonderausstellung „Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute“ aus. Großflächige Schwarz-weiß-Fotografien hängen an den Wänden, auf ihnen kleben viele, bunte Sticker. Die Motive auf den Aufklebern: Juden, denen sichtbar eine Nähe zu Geld und Macht unterstellt wird. Eine natürliche und kulturelle Unterlegenheit bei den Opfern der rassistischen Attacken. Um kolonialrassistische Gewalt zu verherrlichen – die Klebebilder wurden gerne von der ganzen Familie in einem Album gesammelt – wird sie durch eine bunte Bilderwelt, die die Ungleichheit zwischen Europäern und Kolonialisierten illustriert, verdeckt.
Immer wiederkehrend das Bild des natürlichen Deutschen: Ein Roggenfeld, die Sonne geht unter, eine blonde Frau trägt ihre blonde Tochter. Stünde dort nicht sehr groß NPD, hätte es auch Werbung für gesunde Ernährung sein können, erwähnt eine junge Frau. Und: Das kleine Mädchen habe vermutlich keine Ahnung, wofür ihr Gesicht herhalte, so ein junger Mann. In einer Untersuchung („Sechs Sticker und sechs Stimmen“, Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin) bekommen sechs StudentInnen mit verschiedener Herkunft und Religionszugehörigkeit rassistisch und antisemitisch motivierte Aufkleber gezeigt und werden zu ihrer Emotion befragt.
Weiß und ängstlich, dunkel und bedrohlich: So fehlgebildet immer wieder die klebrige Darbietung: In der Mitte steht ein weißes ängstliches Paar, umringt von Männern – weil ja nur Männer Zuflucht suchen – die entweder maskiert sind oder monströs schauen. „Asyl? – Nein! Jetzt reicht’s“ auf dem knallgelben Aufkleber des „Freundeskreis – Freiheit für Deutschland“, das war 1990. Die Feindbilder sind mal die Schwarzen, mal die Sozialisten und natürlich die Juden. Dabei sind sie sich selbst nicht ganz einig, ob die Feindbilder nun Witzfiguren sein sollen oder doch bedrohlich, weil „Unsere Herrscher“. Man kann zumindest immer wieder feststellen: Anscheinend braucht es ein gemeinsames Feindbild, um das eigene kümmerliche Dasein aufzuwerten.
Der öffentliche Raum als Bühne und Verbreitungsort für die politische Botschaft. Anonym klebt die Agitation an Straßenschildern, Laternen oder an Bahnhöfen, darüber hinaus markieren die illegal angebrachten Aufkleber das Revier. Erfreulicherweise gibt es im Straßenprogramm nicht nur Schmierentheater.
Wehrt euch!
Diese Guerillataktik verleibt sich schnell auch der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ein und kontert ironisch und opportun: „Der Antisemitismus ist der Sozialismus der Dummköpfe“ oder „Judenhass aus Eigennutz ist Schurkerei/Judenhass aus Überzeugung ist Dummheit“. 1893 gegründet, um staatsbürgerliche Rechte zu verteidigen sowie Angriffe auf gesellschaftliche Gleichberechtigung abzuwehren, gehören sie zur wichtigsten politischen Vertretung deutscher Juden. Ihre Aufforderung: „Wehrt euch!“
Zu einer weiteren Instanz gegen antijüdische Stereotypisierung und Diskriminierung werden drei Pfeile: Das Symbol der „Eisernen Front“, ein Zusammenschluss des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Allgemeinen freien Angestelltenbundes, der SPD und des Arbeiter-Turn- und Sportbundes im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Der russische Mikrobiologie Sergej Tschachotin war vor allem auch Antifaschist und Propagandastratege, er entwickelt das „Dreipfeil gegen Hakenkreuz”, auf einem Plakat heißt es: „Trage ein Stück Kreide bei dir und vernichte jedes Schmachkreuz durch unsere drei Pfeile. Zeige allerorten und bei jeder Gelegenheit Bekennermut.“
Keine Kreide, dafür Sprühdose und Spachtel. Seit 1986 ist die Politaktivistin Irmela Mensah-Schramm unermüdlich dabei, Bekennermut zu zeigen und jede menschenfeindliche Diffamierung zu vernichten. Mit über 75.000 abgelösten Botschaften trägt sie einen großen Teil zur Ausstellung bei. Ein ganz bedeutender Teil ist jedoch der Bestand des Sammlers Wolfgang Haney. Als Kind einer jüdischen Mutter erlebt er im dritten Reich selbst Repressalien, kann seine Mutter verstecken und ihr so das Leben retten. Die gesammelten Aufkleber sind Zufallsfunde Haneys, die er auf Briefen findet. Seine Sammlung wurde in vielen Ausstellungen gezeigt und er wurde bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr nicht weniger umtriebig, das Grauen und Unrecht zu zeigen.
Die Stadt Köln hat im Übrigen 2012 die Initiative „Klebt Euch nicht zu“ gegründet, damit solle die Bevölkerung auf die Probleme aufmerksam gemacht werden, die wildes Bekleben verursache. Wie durch nicht mehr lesbare Verkehrszeichen und Hinweistafeln. Um ihre Kampagne zu verbreiten, wurden Stadtbahnen mit Plakaten gestaltet. Nicht klebend.
Konzeptioniert und zusammengetragen durch das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, des Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und des NS-Dokumentationszentrums München ist die Ausstellung bis zum 4. November 2018 im NS-Dokumentationszentrum zu sehen.
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