Hanns Zischler, Kafka und das Kino in Bonn, das hat eine Vorgeschichte. Vor einigen Jahren bereits war ein Vortrag des Schauspielers, Autors und Filmemachers geplant, leider musste Zischler absagen. Umso bedauernswerter, dass auch der nächste Versuch im Rahmen der diesjährigen Stummfilmtage nicht klappte: wieder eine Absage. Mit Stefan Drößler war allerdings der Co-Autor des Vortrags da, und der hielt ihn trotzdem – „da müssen Sie auf einige Anekdoten verzichten, die Zischler sonst immer einstreut.“ Für Drößler ist das ein Heimspiel, der Filmhistoriker leitet heute zwar das Münchner Filmmuseum, aber eben gleichzeitig auch die Stummfilmtage in Bonn.
Die Arbeit Hanns Zischlers, der für sein 1996 erschienenes Buch „Kafka geht ins Kino“ und einen Fernsehfilm die Tagebücher Franz Kafkas akribisch nach Kinoreferenzen durchsuchte, kann jetzt nach Restaurationsarbeiten mit den noch erhaltenen Filmen erlebt werden. Neu aufgelegt und überarbeitet liegt dem Buch jetzt eine DVD mit Filmausschnitten bei, oder man kauft sich gleich auf vier DVDs alle noch erhältlichen Filmschnipsel, die Kafka (je) gesehen hat. Die Lesung sollte jetzt einen kleinen Einblick bieten in die Filmwelt kurz nach 1900. Und dieser Einblick gelang verzüglich, auch ohne den Hauptdarsteller Zischler. Von 1908 bis 1913 reichen die Verweise im Tagebuch, das war also offenbar die Kinogänger-Zeit Kafkas. Wie Stefan Drößler hervorhebt, ist das gleichzeitig die Zwischen-Zeit von der Gründung der ersten sesshaften Kinos bis in das Jahr, in dem der Film nicht mehr technisches Spektakel, sondern Kultur sein wollte. Als Autoren, Theaterschauspieler und -regisseure angeworben wurden, um das Bürgertum zu erobern.
Nachzuvollziehen ist zunächst die Faszination Kafkas für die Technik, für das Neue, das sich auch in seinen Besuchen von Flugschauen und technischen Ausstellungen zeigt. Über eine Flugschau in Brescia berichtet nicht nur Kafka für die Zeitung, es ist auch noch ein Film erhalten. Bericht und Film lassen sich übereinander legen und zeigen erstaunliche Überschneidungen. Eine technische Spielerei allerdings. Kafka war zwar am Drehtag vor Ort. Dass offenbar Menschen in den Filmaufnahmen Kafka zu identifizieren versuchen, zeigt doch den Stellenwert des Berichtenden für die Kamera: Er war nur einer unter hunderten Besuchern.
Auch viele der Tagebucheinträge Kafkas sind nicht sehr aussagekräftig. Über einen „Kulturfilm“, den er sich offenbar anschaute, schreibt er: „Körners Leben. Die Pferde. Das weiße Pferd. Der Pulverrauch.“ Was sieht der Zuschauer im Film? Genau das. In der Reihenfolge. Man stimmt allerdings Drößlers Kommentar zu, den angekündigten Vorfilm „Seltsame Insekten“ hätte man gerne mal gesehen. Ob da Käfer vorkommen? Leider nicht erhalten, der Film.
So werden Kafkas Notizen, weil es Kafkas sind, als Anlass genommen, um in diese spannende Anfangszeit des Kinos zu reisen. Es ist das Werk eines (vermutlich) enthusiastischen Kafka-Fans und Kinogängers. Das wird im Buch nachzulesen sein. Das beeindruckendste Material an diesem Abend ist bezeichnenderweise gar kein Film. Es sind kolorierte 3D-Fotos, wie sie im sogenannten Kaiser-Panorama zu sehen waren. In Bonn kann man sie mit 3D-Brille sehr authentisch erleben: faszinierende Fotos Italiens kurz nach 1900, von plastischen Menschen auf Plätzen, an Uferpromenaden, tolle Naturfotografie von Flüssen in den Bergen. Was heute noch so begeistert, muss doch damals süchtig gemacht haben. Man erkennt, dass nicht nur wir neuer Technologie gegenüberstehen und fasziniert sind und manchmal überfordert. Dass Kafka vermutlich ganz Ähnliches erlebte, wenn er nicht nur „geweint“ hat, sondern im gleichen Eintrag auch schreibt, wie leer er sich fühlte nach dem Kinobesuch.
Was wundersamerweise auf der Strecke bleibt, sind dabei die literarischen Bezüge. Der Einfluss des Kinos auf das Schaffen Kafkas sollte ja gezeigt werden, was sich aber zum größten Teil auf sein Tagebuch beschränkt. Und für Kafka kann man nach einigen präsentierten Einträgen auch festhalten: Ja, Kafka geht ins Kino. Aber er schreibt irgendwann auch, dass er die Filmplakate viel länger studiert als die Filme selbst. Dass er an den Kaiser-Panoramen schätzt, dass sie sich so lange in Ruhe betrachten lassen. Nicht wie das flüchtige Kinobild. Und irgendwann geht Kafka gar nicht mehr ins Kino.
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