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Lou Zöllkau in „Geschichten aus dem Wiener Wald“
Foto: Tommy Hetzel

Im Höllenkreis des Kleinbürgerlichen

26. November 2015

Schauspielhaus startet in die neue Saison mit Horvàth – Auftritt 12/15

Interims-Lösungen in Köln haben die Tendenz, sich zu verstetigen. Das bestätigen jetzt auch die Bühnen Köln. Kaum war das Sanierungs-Interim für zwei Jahre verlängert worden, ist nun klar, dass es dabei nicht bleiben wird. Nach der Kündigung der Firma Deerns, die für Gebäudetechnik zuständig war, sind nun drei Jahre ziemlich sicher. Zur Eröffnung der Interimsverlängerung gab es im Schauspiel ein Stück von Ödön von Horvàth, mit dem der Intendant offenbar noch eine Rechnung offen hat. Dem Stück, nicht dem Autor: „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Ein Stück aus dem Kanon, dessen artifizielle Kleinbürgerstudie inzwischen ziemlich abgestanden daherkommt. Die Bildungsbürgerseele weiß natürlich um die Parallele zwischen aufziehenden Nationalsozialismus und AfD bzw. Pegida, um strukturelle und konkrete Gewalt, unter der vor allem die junge Marianne leidet oder den latenten Rassismus – stimmt alles, nur in einer völlig anderen historischen Konstellation. Bachmann macht etwas so Richtiges wie Langweiliges: Alle Figuren werden zu Zombies oder Untoten – ein Schauerfigurenkabinett der erlesenen Sorte.

Seelenkrüppel, die den Betrachter entweder elegisch-melancholisch am Menschsein verzweifeln lassen oder zum Zynismus verleiten. Ein Skelett (Simon Kirsch) tanzt auf die kreisrunde Parkett-Weltscheibe und lädt zum Totentanz. Wie aufgerufen schnurren die Figuren nach vorne, hell geschminkte Gesichter, 1970er-Biedermann-Look und Ticks, wohin man sieht. Marianne (Lou Zöllkau) lässt sich von ihrem Vater, dem Zauberkönig (Martin Reinke) am Ohr ziehen wie eine ungehorsame Schülerin, weil er seine Sockenhalter nicht findet. Ihr Verlobter Oskar ist auch nicht besser. Bruno Cathomas spielt ihn als angefetteten Biederling und Sadisten, der die Hände gehorsam an die Hosennaht anlegt, Marianne beißt und an ihr schmerzhaft Judogriffe demonstriert. Sie flüchtet in die Liebe zu Alfred (Robert Dölle), der allerdings gleich zu Anfang in einer absurden Pietà an der Brust seiner Mutter nuckelt und ansonsten den gehemmten Strizzi gibt. Bachmann treibt seine Figuren in die Groteske, verkrümmt ihre Körperhaltung ins Gebückte, Buckelnde, lässt sie als Tierimitationen über die Bühne schleichen oder gar als Monster wie den Metzger Havlitschek (Sean McDonagh), der in seiner hellen Metzgerschürze mit Vorliebe kehlig grunzt. Wie den Studenten Erich (Simon Kirsch) in viel zu engen Hosen, der mit seinem verkrüppelten Arm den zackigen Nazi mimt. Oder die Trafikantin Valerie (Melanie Kretschmann) in ihrer völlig übersteigerten Koketterie.

Bachmanns Wahl der Groteske ist die Entscheidung für die strikte Form. Ein Haltungs-Korsett, aus dem es für die Figuren kein Entkommen gibt und das sie einschnürt von der ersten Minute an. Bereits nach 20 Minuten hat man jeden Charakter erschlossen. Der Rest ist Erfüllung der Form. Einer kalten Form, die erbarmungslos auf Horvàths Personal blickt und nichts Menschliches oder nur allzu Menschliches an ihnen entdeckt. Mariannes Liaison mit Alfred endet in der Katastrophe, das uneheliche Kind gibt sie in die Hände ihrer Schwiegermutter und der Großmutter (Jörg Ratjen als Oberförsterin), die es einfach erfrieren lassen. Marianne verdingt sich als Nackttänzerin, wird verhaftet und kehrt schließlich zu Oskar zurück. Ein Höllen-Kreislauf des Kleinbürgerlichen, der dem Betrachter den erhabenen oder den Ecce-Homo-Blick ermöglicht. Marianne hat in diesem Spiel die Funktion des Opfers in einer sich wiederholenden gesellschaftlichen Gleichung: Die Sockenhalter-Szene kehrt mit Alfred wieder. Marianne hockt schließlich als nackte, sündige Eva, die ihr uneheliches Kind bereuen soll, in der Bühnenmitte. Mitleid muss man mit ihr nicht haben. Einen Lichtblick bieten immerhin die vernutzten Metaphern, die Horváth seinen Figuren in den Mund legt. Entstellte Phrasen, Sprichworte, die eigene Erfahrungen bemänteln und überhöhen sollen, aber immer falsch klingen. Diese Sprachcamouflage kommt heute in fast jeder Konversation vor. Was damals als Kunstgriff zur Entlarvung des Kleinbürgerlichen diente, ist heute ubiquitär – vor allem in den Gesprächen des Bürgertums über Kunst.

„Geschichten aus dem Wiener Wald“ | R: Stefan Bachmann | 1.12., 17.12. je 19.30 Uhr, 6.12., 27.12. je 18 Uhr, 20.12. 16 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 28400

Hans-Christoph Zimmermann

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