Warum ist es so schwierig, Erwachsenen klarzumachen, dass im Kinder- und Jugendtheater ebenso gewichtige Kunstwerke entstehen wie im Theater für die Großen? Vielleicht liegt es daran, dass in Deutschland jeder, der sich mit Kindern beschäftigt, nur als halbe Portion angesehen wird, egal ob es sich um Kinderbuchautoren, Illustratoren, Erzieher oder Kinderärzte handelt. Offenbar ist das Verhältnis, dass die Deutschen zu ihrem eigenen inneren Kind haben, leicht gestört. Wir wissen, das kommt nicht von ungefähr. Dabei gibt es im Kindertheater so viel zu entdecken, ja, mitunter begegnet man dort der Seele des Theaters auf eine Weise, wie man sie in vielen Stadttheatern, aber auch auf Freien Bühnen kaum noch zu Gesicht bekommt.
Das Kindertheaterfestival Westwind liefert vom 16. bis 21. Juni in Bonn eine perfekte Gelegenheit, sich von der ästhetischen Vielfalt dieser Bühnenkunst zu überzeugen. Die zehn besten Produktionen aus NRW sind zu sehen, dazu fünf Erfolgsstücke aus Frankreich, Belgien, Norwegen und Spanien und drei Inszenierungen aus Bonn vom Theater Marabu, dem Jungen Ensemble Marabu und der Bühne der Brotfabrik. Zum 29. Mal wird Westwind veranstaltet, ein Festival, das die NRW-Städte im Wechsel ausrichten. Diesmal ist Bonn an der Reihe, da das Theater Marabu seinen 20. Geburtstag feiert und zu den besten Gruppen in Deutschland zählt. Mit „Schwestern“ präsentieren die Marabus einen der großen Texte von Jon Fosse, Skandinaviens derzeit wichtigstem Dramatiker.
Im Gegensatz zur konzentrierten, puristischen Prosa von Fosse bietet die Comedia mit Frank Hörners Dramatisierung des Erich Kästner-Bestsellers „Emil und die Detektive“ Erzähltheater der fulminanten Sorte für Jugendliche. Hörner lässt die Schauspieler in die Rollen von drei Insassen der JVA schlüpfen, die das Stück aufführen sollen. Das Ergebnis ist komisch, unsentimental und bietet eine Tour de Force durch Berlin auf kleinstem Raum.
Der eigentliche Quell der Inspiration des Kindertheaters liegt in der Tatsache, dass mit jeder Inszenierung das Theater wieder neu erfunden werden muss. Man verfügt nicht wie im Erwachsenentheater über einen Text, der auch dann abgespult werden kann, wenn einem gerade einmal keine Spielidee kommt. Im Kindertheater muss hingegen für jede Inszenierung eine spezifische Ästhetik und eine spezielle Form des Erzählens und Spielens gefunden werden. Die Sujets kennen kaum eine Einschränkung, denn man kann mit Kindern über alles sprechen. Es kommt halt nur darauf an, wie man es macht. So zeigt das Junge Schauspielhaus Düsseldorf eine Dramatisierung von Wolf Erlbruchs Bilderbuch „Ente, Tod und Tulpe“, die sich im Bühnenbild an Erlbruchs großartigen Illustrationen orientiert und zeigt, dass die Beschäftigung mit dem Tod tröstlich und humorvoll sein kann. Auch Geschichten wie Frances Hodgson Burnetts „Der geheime Garten“, die viele zuckersüße Nacherzählungen haben ertragen müssen, können auf einer Bühne mit zupackender Dramaturgie und einem pointierten Bühnenbild wieder die Frische ihrer Urfassung zurückgewinnen. Ein Kunststück, das vom Theater im Pott aus Oberhausen glänzend demonstriert wird.
Das Kindertheater bietet heutzutage mitunter atemberaubende Bildideen, die das Theater in ein Medium verwandeln, das sich unverrückbar zwischen Literatur und digitalen Medien positioniert. So überwältigen die Bildkompositionen der Compagnie les Ombres portées aus Frankreich durch ihre Scherenschnitte und Papierkonstruktionen. Mit raffinierten Projektionen und mitreißender Live-Musik erzählen die Franzosen ohne Text eine Geschichte, die das Publikum mit auf ein Abenteuer nimmt, in dessen Verlauf man die Weltmeere zu erkunden lernt.
Westwind Festival I 16.-21.6. I Bonn I www.westwind-festival.de
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